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1990 - 34. FIDENA

 

TOMSK

 

Auf der 33. FIDENA im Oktober 1989 erhielt ich von Hejno, Direktor des Figurentheaters  Wroclaw (Breslau), den Hinweis, das zur Zeit mit Abstand beste Figurentheater Russlands werde in Tomsk gemacht, Direktor und Regisseur Vinderman. Er hätte gerade auf einem Festival im Westen Russlands eine künstlerisch exzellente und politisch wichtige Inszenierung gesehen: Die Baugrube, nach Platonow. Ich bat Hejno um eine Kontakaufnahme mit Tomsk mit der Bitte um Zusendung einiger Materialien.

Die Polen standen den Russen stets sehr reserviert gegenüber, um das milde zu formulieren. Überraschend daher, dass sich ein Pole für einen Russen bei einem Deutschen einsetzt. Mit der Beförderung und Anerkennung künstlerischer Qualität allein war das nicht zu erklären. Politisch hatte sich viel bewegt. In Polen hatte die Solidarnoc bereits viel verändert, und in Russland hatte Gorbatschow Glasnost und Perestroika auf den Weg gebracht. Hier galt es, unterstützend einzuwirken. Für ein kapitalistisches Hirn mag das hochtrabend klingen, denn Künste aller Arten gelten in unserem kapitalistischen System als schmückendes Beiwerk, und sie werden dann auch lästig, wenn sie Geld kosten sollen, die wenigen Ausnahmen bestätigen diese Regel. Im Sozialismus dagegen haben die Künste, im Dienste der staatstragenden Ideologie, eine herausragende Bedeutung, wobei der Anteil an künstlerischer Unabhängigkeit - danach strebt künstlerisches Tun nun einmal - immer wieder neu ausgehandelt wurde. Nun also galt es, künstlerische Unabhängigkeit in Russland zu unterstützen, wozu im Bereich Figurentheater eine Einladung zur FIDENA, dem mit Abstand wichtigsten internationalen Figurentheaterfestival der westlichen Welt, ein deutliches Zeichen, von allen im Ostblock verstanden, setzte.

Ein dicker Umschlag erreichte mich Anfang 1990 aus Tomsk, die Inszenierung war reisefähig, was sie mit der Teilnahme am Festival in Westrussland bewiesen hatte. Ich überging wiederum, wie bei der Einladung des Figurentheaters aus Vilnius, die Moskauer Zentrale, ich mochte diese Dame, die alle Fäden in der Hand hielt und dies auch zeigte, einfach nicht und nahm an, dass sie es diesmal nicht mehr wagen würde, der Ausreise eines Figurentheaters aus Russland allzu große Steine in den Weg zu stellen.

Große Inszenierungen aus dem Ausland sah ich mir vor einer Einladung immer an, um die künstlerische Qualität sicherzustellen, was bei dieser Inszenierung nicht notwendig war, da Hejno sie mir empfohlen hatte. Aber der Erfolg der Aufführungen in Deutschland, und die Inszenierung sollte auch in anderen Städten der Bundesrepublik gezeigt werden, war auch immer abhängig von ihren technischen Anforderungen, die vor Ort umgesetzt werden mussten. Hinzu kam der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen den Entscheidungsträgern. Die  FIDENA galt nicht nur als Qualitätsfestival, ein Auftritt war ein Markenzeichen, sie galt auch als seriös, Zusagen meinerseits wurden immer eingehalten, nachdem sie ausgehandelt waren, was am einfachsten von Gesicht zu Gesicht vonstatten ging, meistens mit einer Übersetzerin. Bei Verhandlungspartnern im Ostblock selbstverständlich unter Vorbehalt der Zustimmungen von deren Staatsorganen, die es sich in Russland und in der DDR  nicht nehmen liessen, die Ausreisegenehmigungen erst am Tag vor der Ausreise auszustellen oder eben auch nicht, dreimal passiert.

Meinerseits sprach ich eine für mich verbindliche Einladung aus, mit allen Details, wobei es bei den teilnehmenden Personen nur um die Anzahl und nicht um deren Identität ging, festgehalten auf einer oder zwei Seiten mit Institutsstempel und mit meiner Unterschrift. Niemand musste gegenlesen, um Zustimmung oder Erlaubnis gefragt werden. Die Mitwirkung eines Juristen habe ich niemals gesucht, er hätte mir in einem langen Vertragstext Klauseln reingeschrieben, ich mochte es kurz und knapp, deutlich unzweideutig. Ein Exemplar mit einer Zweitschrift für meinen Vertragspartner. Die Konsularabteilungen unserer Botschaften weltweit haben meines Wissens niemals ein Visum für die FIDENA verweigert, obwohl jede Bühne aus dem Ostblock sogenannte Sicherheitsleute mitbrachte.

Meine Reise nach Tomsk fand im Juni statt, die FIDENA war im Oktober, das war knapp, die Einladung hatte ich in zwei Exemplaren dabei. Ich erhielt anstandslos ein Touristenvisum für Russland und wurde im Moskauer Flughafen von einer jungen Schönheit  erwartet, die ein Schild mit meinem Namen hochhielt. Willkommen in der Union der Sozialistischen Soviet Republiken, ich bin Mitglied des Ensembles, herzliche Grüße von Herrn Direktor Vinderman, geben Sie mir bitte Ihren Pass. Ich zögerte leicht, meinen Pass hergeben?

Eilig setzte sie mich an einen kleinen Tisch vor einem nahen Bistro, holte ein Glas Milch und verschwand. Eine halbe Stunde, meinte sie. Von den Trinkgewohnheiten der Russen hatte ich anderes gehört, Milch also, zumindest hatte ich Kaffee erwartet, aber hier gab es keinen Kaffee, alles nur Milch, klinisch weiss. Wenn mich jemand ansprechen oder kontrollieren wollte, ich hätte nicht mitspielen können, kein Pass, somit kein Visum und keine Rubel. Wenn ich diesen Stuhl mit meinem Gepäck hätte verlassen müssen, ich wäre unauffindbar gewesen, an wen hätte ich mich wenden können? Was hätte ich sagen können?  Dass ich mich auf dem Weg nach Tomsk befände? Wie ich später erfuhr, hätten die Handschellen dann besonders schnell geklickt. Mit viel Glück wäre ich auf Umwegen im Büro dieser kleinen allmächtigen Frau, Generalsekretärin der Unima Russlands, gelandet, abgeliefert. Ich nahm einen tiefen Schluck aus dem Glas mit der kühlen Milch und...es war keine Milch.

Meine Blicke gingen in die Runde, gab es einen Hinweis auf eine Toilette? Würde mein Verdauungsapparat das aushalten? Die süße Sahne mit einem gefühlten Fettgehalt von 120% war neu für mich und meinen Körper. Ich ging in mich. Rührte nichts an. Horchte in mich hinein. Übte positive Selbstsuggestion. Freudestrahlend tauchte sie auf, gab mir den Pass und ab ging es in eine große schwarze Limousine, die vor der Flughafenhalle wartete. Das war kein Taxi. Wir saßen im Fond, ein Auto mit dunklen Gardinen, zugezogen. In einem Affentempo Richtung Zentrum, das Auto schien eine Extraspur zu haben. Wohin? Zu dieser Dame. Muss das sein? Ja.

Mit gebremster Freundlichkeit übergab ich der Dame den für Tomsk vorgesehenen Pralinenkasten der Extraklasse in der Annahme, sie werde ihn zuhause andächtig öffnen und die Stücke über einen langen Zeitraum einzeln genießen. Kaum hatte sie ihn in den Händen, riss sie ihn auf und fast entzwei und verteilte die Köstlichkeiten an die hinter den Schreibtischen nun nicht mehr sitzenden fülligen Damen, auch ich musste eine essen, eine Praline, obwohl mir der Appetit bei Ansicht dieser Prozedur gründlich vergangen war. Der Aufenthalt war kurz, mit der Limousine ging es stadtauswärts in die entgegengesetzte Richtung etliche Kilometer zu einem anderen Flughafen. Der Sinn dieses Zwischenstops hatte sich mir nicht erschlossen.

Dieser Flughafen war anders. Wie ein Hauptbahnhof zu Beginn der Sommerferien. Rappelvoll. Hauptsächlich mit drallen Bäuerinnen um die fünfzig mit Sack und Pack und Getier. Die riesige Anzeigentafel ratterte und klapperte und surrte unentwegt, ich wunderte mich, dass keine dieser mehrere Tausend Metallklappen jemals klemmte. Da wurden nicht vierzig oder sechzig Flugbewegungen angezeigt, sondern zweihundert bis dreihundert, in einer ziemlich kleinen Schrift, die ich nicht lesen konnte. Der Anzahl der zeitgleichen Abflüge nach zu urteilen, musste dieser Flughafen wenigstens fünf Start- und Landebahnen haben. Und in der Tat, ich befand mich auf dem zentralen Verkehrsknotenpunkt der Union der Sozialistischen Soviet Republiken.

Wenn sich eine Person in den Kopf gesetzt hatte, von Tiflis nach Ufa zu reisen, dann konnte sie sich nicht einige Tage lang in die Eisenbahn setzen, weil es keine Eisenbahnverbindung gab, sie konnte auch nicht mit dem Auto fahren, weil es keine Straßenverbindungen gab, sie konnte nur fliegen, allerdings nicht von Tiflis nach Ufa, sondern über den absurden Umweg von Tiflis zu diesem Flughafen bei Moskau und von ihm nach Ufa. Flugkarten selbst waren spottbillig, weitaus teurer dürfte die Erlaubnis zum Erwerb dieser Flugkarten sein, denn zurück wollte man im allgemeinen ja auch. Jeder, der in Russland ein Flugzeug bestieg, landete hier, und von hier aus - in diesem zentralistischen Staat ausschliesslich von hier - ging es auf jeden zivilen Flugplatz innerhalb dieses Landes. Auslandsflüge gab es hier nicht, Pass- und Zollkontrollen waren nicht notwendig. Nur eine Bordkarte musste man ergattern. Die hatte ich, der Koffer war aufgegeben, alles mit Hilfe meiner schönen Begleiterin, Ensemblemitglied, und sie hatte mir, gegen Unterschrift, einige Rubel gegeben. Sie erklärte mir, wann wohin, es waren zwei Stunden Zeit, die ich nicht einfach rumsitzen konnte.

Ich wollte mir das alles mal genauer ansehen und landete in einer Art Werkskantine. Nachdem ich lange genug an meinem Getränk rumgenuckelt hatte, verließ ich diesen geschäftigen Raum interessehalber am entgegengesetzten Ende durch eine normale Tür, und ich war draußen. Es war dunkel geworden, die Luft war einigermaßen frisch, und ich befand mich auf einer großen Betonfläche. Mal sehen, was die Russen alles anzubieten haben, ich hatte Pass und Bordkarte, was sollte mir passieren? Nach ca. fünfzehn Minuten kamen mir erste Bedenken, wo sind die Sicherheitsleute? Es kann doch nicht sein,  dass ein Deutscher, ok, er sah in seinen Jeans, in seiner nichtssagenden Jacke und unauffälligen Schuhen, vielleicht wie ein Russe aus, viele trugen Jeans, aber so einfach in der Gegend rumspazieren, nah an die Flugzeuge ran, das kam mir heftig vor. Wie auch schon mit meinen Erfahrungen in der DDR, hatte ich auch hier für die Sicherheitsorgane jeden Respekt verloren. Ich machte mich auf die Suche nach dieser Werkskantine.

Im Flugzeug saß vor mir am Gang eine Bäuerin mit einem Huhn in einem Korb, sicherlich ein sehr schönes Huhn und auch wohlgenährt, aber eben auch lebendig, sie hatte es neben sich auf den Gang gestellt, fast auf meine Füße. Aus China kannte ich, was Flugzeuge angeht, einige randständige Gewohnheiten, ein lebendiges Tier als Zugabe zum sogenannten Handgepäck, es hatte hier die Größe dessen, was zwei Hände eben noch tragen konnten, das war mir neu. Neugierig war ich auf das Abendessen, wird es überhaupt etwas geben? Es gab ein halbes Huhn, wohl halbgekocht und halbgegrillt, kalt, und eine Flasche Pepsi.

Beim Einsteigen war mir eine Erscheinung aufgefallen, die jedem Menschen, der ein gesunder Mann war, den Atem nahm. Ein drei Meter langer Schaal, rot, ein blaues Kostüm, einfarbig, und obendrauf ein Kopf wie geklaut von Sophia Loren und Gina Lollobrigida, allein diese Lippen. Da war man, ich will nicht von mir sprechen, hingerissen, wörtlich, hin, man wollte, als wäre man ein starker Magnet, sofort andocken. Sie saß zwei Reihen schräg hinter mir. Es gab sogar Augenkontakt, sie hatte mich als einzigen Kapitalisten in diesem Flieger identifiziert. Vor mir dieses Huhn, hinter mir diese außerirdische Erscheinung, und alle mit demselben Ziel: Tomsk, Zwischenlandungen waren nicht vorgesehen.

Wo war dieses Tomsk? Entweder war ich mal wieder zu faul oder zu beschäftigt gewesen, ich hatte jedenfalls auf keine Landkarte gesehen, irgendwo so kurz hinter dem Ural, in Sibirien somit, Flugzeit so um die zwei Stunden, das hatte ich im Kopf. Nach eineinhalb Stunden sah ich über meine schöne Begleiterin hinweg aus dem Fenster, vom halben Huhn waren die Knochen geblieben, was wäre Russland ohne seine Hühner mit ihren Eiern, es könnte nicht überleben, und blickte auf eine große Stadt, überall Lichter, eine mir unbekannte Stadt.

Nach einer dreiviertel Stunde, von einem Landeanflug war nichts zu spüren, und ich war eigentlich mehr mit dem roten Schaal beschäftigt, so einfach aufstehen konnte ich schlecht, das Huhn hätte geflattert, ich blickte also wieder aus dem Fenster und sah immer noch diese Stadt, überall Lichter. Eine solch große Stadt konnte es nicht geben. Ich sah mir das genauer an. Hunderte dieser Lichtquellen, bis an den Horizont, und wir fliegen sicher schon länger als eine Stunde lang darüber hinweg. Da wurde abgefackelt, jedes dieser Lichter eine kontrolliert brennende Gasquelle, wir flogen über ein Gasfeld riesigen Ausmaßes.

Nach mehr als fünf Stunden Flugzeit Landung weit nach Mitternacht. Wo war ich? Direktor Vinderman begrüßte mich, und er beglückwünschte mich. Wozu? Ich sei der erste Mensch aus einem kapitalistischen Land in dieser Stadt. Ich benötigte in Moskau ein spezielles Visum von den Militärorganen, daher diese halbe Stunde im Moskauer Internationalen Flughafen ohne Pass, die süße Sahne hatte ich übrigens gut vertragen. Mein Bett fand ich schnell, ganz oben im Penthaus, alles verkleidet mit halbrunden geschälten, armdicken Birkenstämmen im wohl besten Hotel der Stadt, ich war dort vollkommen isoliert. Aber ich hatte noch Hunger. Also abwärts. Eine Dico war imgange, junge Leute, ein recht großer Saal. Ich setzte mich an einen seitlichen Tisch und wurde von niemandem beachtet, es gab mich nicht. Nach fast einer halben Stunde hatte ich einen Toast mit Hühnerfleisch und einer Pepsi. Ich war wohl etwas aufgedreht, den roten Schaal hatte ich am Flughafen aus den Augen verloren, und wollte mich noch körperlich betätigen. Ich holte mein ledernes Springseil aus der Zeit meiner Mitgliedschaft beim Boxclub Heros hervor und sprang mit mir um die Wette.

Der Vormittag gehörte der schönen Begleiterin, Ensemblemitglied, Stadtbesichtigung bis zur Mittagszeit, bis 16 Uhr zur freien Verfügung, Abholung vom Hotel zu einer eigens für mich eingerichteten Theateraufführung. Abendessen bei Vindermans. Die Taxis haben als Windschutzscheibe Panzerglas und brauchen das auch. Die äußere Glasschicht ist durchsiebt mit Einschusslöchern. Unser Taxi hatte sechsunddreißig. Steinschlag. Die Straßen waren bedeckt mit einer Schicht kleiner runder Kieselsteine, sicher aus dem breiten Strom. Die Taxifahrer haben in dieser Stadt spezielle Augen entwickelt, um da durchsehen zu können.

In der Ferne zwei mächtige Kühltürme. Fahrt an den Stadtrand. Schluss. Ende. Kein Schlagbaum, kein Feldweg. Nichts. Nur Taiga. Birken, vielleicht bis fünf Meter hoch und nicht gerade dick. Gibt es keine Straßen woanders hin? In andere Dörfer oder Städte? Nein. Und was ist da drin, da hinter? Dort leben die Ureinwohner, manchmal kommen einige von ihnen in die Stadt, sie leben für sich. Von denen hatte ich niemals etwas gehört. Doch, viele Völker. Sibirien, die mit Abstand größte Fläche, war leer, mit Ausnahme einiger uralter Volksgemeinschaften aus der Steinzeit, Jäger und Sammler, die an Flüssen lebten, mit kaum einer Berührung zu unserer Zivilisation, und wenn es sie denn gab, dann gab es auch Gewehre für die Jagd. Wie konnte man ein Leben in dieser Stadt aushalten? Und hier sollte es das zur Zeit beste Figurentheater Russlands geben? Hauptverkehrsader ist der Strom - welcher Strom, eine Landkarte gab es nicht - und dann doch eine Strasse, zu diesen Kühltürmen, aber die war immer gesperrt und dann dieses Flugzeug, einmal am Tag. Die Holzhäuser fielen mir auf, mächtige Blockhäuser in allen Varianten, auch mehrstöckig, mit filigranen Verzierungen, Holzschnitzereien, die mich an die Philippinen erinnerten. Wie war das hier möglich?

Nach dem Mittagessen erkundete ich die Stadt zu Fuß. Zum Glück lag das Hotel zentral, und ich fand sogar den Hauptbahnhof, es gab also eine Eisenbahn, die Transsibirische? Am Straßenrand eine alte Frau, wollte Äpfel verkaufen, grün, klein und verschrumpelt. Es regnete leicht, und die Hauptbahnhofsuhr zeigte eine vollkommen falsche Zeit. Ein mehrstöckiges Kaufhaus lag in der Nähe, ich wollte einen Schirm kaufen. In dieser sibirischen Ferne war das Angebot erstaunlich gut sortiert, besser als in Bulgarien oder Rumänien, einen Schirm gab es nicht, keinen einzigen. Regen war nicht vorgesehen oder man hatte gefälligst nass zu werden.

Das Theater war ein größerer Kellerraum mit vielleicht hundertfünfzig Sitzplätzen. In einer geschlossenen Stadt, in einem Keller. Immerhin, die Inszenierung war nicht nur transportabel, der Aufbau war auch variabel, konnte sich sogar einem Kellerraum anpassen. Für eine Stadttheaterbühne war das dann wohl nichts. Die Baugrube, ihretwegen war ich hergekommen, gab es nicht, es seien Ferien, einige Mitglieder seien nicht greifbar. Irgendetwas war hier faul. Im Zuschauerraum außer Direktor Vinderman und mir, der rote Schaal. Wir lächelten uns an. Ansonsten hatte ich in Ostasien gelernt, meine Emotionen nicht ins Gesicht fallen zu lassen. Es wurde ein Ausschnitt aus einer Schauspieler-Inszenierung gegeben, Meister und Margarita nach Bulgakow.

Höhepunkt der schauspielerischen Darbietung sollte wohl der tränenreiche Ausbruch einer Schauspielerin sein. Mich kotzte das an. Das kannte ich. In Hong Kong wollte eine Schauspielerin vor meiner Prüfungskommission auf diese Weise ebenfalls Eindruck schinden, mein Kollege von der New Yorker Juilliard School rückte das ins rechte Licht und ließ nichts anbrennen. Nach einer guten halben Stunde setzten sich alle Schauspieler auf die Rampe und sahen mich erwartungsvoll an. Ich hatte nicht nur kein Wort verstanden, ich kannte auch den Roman nicht, ganz gewiss eine massive Bildungslücke. Die Situation allerdings kannte ich, einmal aus Bratislawa und einmal aus Sofia, wo ich nach erfolgter Aufführung vor versammelter Mannschaft bei ausgesprochenem Respekt vor der künstlerischen Leistung begründete, weshalb ich diese Inszenierung nicht einladen werde.

Es ginge um das hohe Gut der Völkerverständigung, welcher wir in diesem Fall keinen guten Dienst mit einer Einladung zur FIDENA und in weitere Städte der BRD erwiesen, weniger wegen der Sprachschwierigkeiten, sondern wegen der sehr deutlich zutage kommenden Unterschiede in den Mentalitäten unserer Völker, was hier ein großer Erfolg ist, wäre bei uns meiner Meinung nach ein Misserfolg. Na ja, alle sahen mich an, und ich sah zurück. Direktor Vinderman meinte schließlich, ich möge etwas sagen. Ich rühmte die exquisite künstlerische Leistung, die Präzision, den Rhythmus, die  Farbigkeit der Ausdrucksmöglichkeiten, die Stimmführung, die körperliche Präsenz und Ausstrahlung, die Tränen erwähnte ich nicht, ich beglückwünschte Direktor Vinderman für die Regieleistung und sagte deutlich, dass ich diese Inszenierung nicht in die BRD einladen werde, die FIDENA sei ein Figurentheaterfestival, um bei niemandem falsche Hoffnungen zu bestätigen.

Zum Abendessen bei Vindermans, ich hatte den obligaten Black Label mitgebracht, der Pralinenkarton war in Moskau auf der Strecke geblieben, Herr, Frau, Tochter und ich, geräucherter Schinken, gekochter Schinken, Brot und Butter und Wein, und in der Mitte, als Trophäe, ein Riesenstück von blauem Schimmelkäse, sicherlich gut zwei Kilo. Das hatte die Frau am Vortage aus Nowosibirsk mitgebracht, sie war mit der Bahn dorthin gefahren. Man könnte die gut zweihundert Kilometer Richtung Süden auch mit dem Auto fahren, mit dem Flugzeug besser nicht, dann hätte man 16 000 Km zurücklegen müssen, von Tomsk nach Moskau, von Moskau nach Nowosibirsk, von Nowosibirsk nach Moskau und von Moskau nach Tomsk. Aha, Tomsk bei Nowosibirsk, und das liegt an der Transsibirischen, irgendwo in der Mitte zwischen Moskau und Wladiwostok.

Tomsk war Hauptstadt Sibiriens und lange Zeit einzige Universitätsstadt. Die beiden Kühltürme, ja, das ist unser Kraftwerk. Später erfuhr ich, die Kühltürme gehören zu einem von zweien Plutoniumwerken der UdSSR. Die falsche Zeit am Hauptbahnhofsturm ist die richtige Zeit, alle öffentlichen Uhren im Land zeigen die Zeit Moskaus an, auch wenn der aktuelle Zeitunterschied mehrere Stunden beträgt. Der breite Strom ist ein Nebenarm des Ob. Gegenüber der Stadt brechen von Zeit zu Zeit Teile der Steilküste ab und legen Massengräber der Kulaken frei. Das Einladungsschreiben hatte ich dabei, bei der Anzahl der Personen war eine Korrektur fällig, der Stempel war bereits in Bochum eingesetzt worden, meine Unterschrift erfolgte beim abschließenden Likör, übrigens mit gutem Gewissen, da mir diese Inszenierung mit ihrer künstlerisch herausragenden Qualität, die ich ja nun nicht gesehen hatte, von Hejno empfohlen worden war. In Bochum kam die Truppe mit allem Drum und Dran mit dem Bus an. Der war ihnen ab Minsk zugeteilt worden. Die Visa erhielten sie, bevor sie von Minsk abfuhren. Von Tomsk über Moskau nach Minsk mit der Bahn. Und alles wieder zurück. Eine Weltreise, ins heimlich gelobte kapitalistische Land. Eine organisatorische Meisterleistung der Tomsker und eine echte Strapaze.

Das Flugzeug hob am Vormittag ab. Der rote Schaal war da. Wir bewegten uns gleichzeitig und synchron aufeinander zu und setzten uns nebeneinander. Katja, Peter, das war mein Name wann immer Englisch gesprochen wurde, von Ginny eingeführt. Ihre Eltern sind bekannte Schauspieler, sie selbst bereist alle Theater der UdSSR, muss die künstlerische Qualität von Bühnenbild und Kostüm beurteilen, lebt in Moskau. Gleich gibt es wieder dieses blöde halbe Huhn mit Pepsi, gibt es immer im Flugzeug. Wir verabredeten uns für den Nachmittag.

Das Hotel war ein riesiger quadratischer Klotz mit einer Kantenlänge von gefühlten zweihundert Metern, an der Moskwa, im Zentrum. War dies das fürchterliche Hotel, in dessen Zimmern während der sogenannten Säuberungen in den dreißiger Jahren die verängstigten Mitglieder der diversen kommunistischen Parteien zitternd logierten und morgens zwischen drei und vier Uhr abgeholt, gefoltert, zu Geständnissen - zum Wohle der Bewegung - gezwungen, vor ein Gericht gestellt, abgeurteilt und erschossen wurden? Dann müssten Walter Ulbricht und Herbert Wehner, Sekretär Thälmanns und in der BRD lange Jahre Fraktionsvorsitzender der SPD, hier auf ihren Matratzen gehockt und gewartet haben. Wie viele ihrer Genossen haben sie ans Messer geliefert, um zu überleben? Egal, ob ich den Fahrstuhl verließ oder die mächtige Treppe hochstieg, ich hatte sofortigen Augenkontakt mit einer beeindruckenden Matrone, die auf einfachem Stuhl hinter einfachem Tisch mit Telefon und Kartenkästchen saß und nicht nur Treppe und Fahrstuhl im Blick hatte, sondern auch die schnurgeraden immens langen Gänge rechts und links von  ihr, mit allen Zimmertüren, die sich auf beiden Seiten der Gänge befanden. Es war unmmöglich, von einem Zimmer ins andere zu huschen, ohne von ihr bemerkt zu werden und schon gar nicht war ein Besuch eines unangemeldeten Gastes möglich. Es gab noch einen großen Kühlschrank, aus dem man eine Flasche Wasser nehmen konnte, kostenlos. Kein Blumenkübel versperrte der Dame die Blicke.

Wir trafen uns am früheren Nachmittag und zogen los. Sie mit ihrem lustigen roten Schaal legte ein unglaubliches Schritttempo vor, ich, der ich ein guter Geher war, fast atemlos hinterher, sie musste nicht mitbekommen haben, dass ich zwanzig Jahre älter war. An den vielen Kirchen vorbei, auf einen Flohmarkt, in die Altstadt, von der tatsächlich noch etwas vorhanden war, in ein unscheinbares Wohnhaus, innen voll mit bunten Graffiti, die einzige sichtbare alternative Szene der UdSSR, in die U-Bahn, runter auf der schnellsten und längsten Rolltreppe, beim Betreten stockte mir der Atem, auch die in London sind nicht so lang, in einen Palast mit zwei Bahnsteigen. Davon sah ich dann mehrere, alle erbaut von der Jugend zur Zeit der Säuberungen. Die Züge rollten mit hohem Tempo ein, kaum war der eine verschwunden, raste schon der nächste herein, eine derart hohe Taktfrequenz war mir neu. In Hong Kong betrug beim modernsten U-Bahn System der Welt der Zugabstand zweieinhalb bis drei Minuten, hier lag er deutlich unter einer Minute, und alles funktionierte. In den Zügen las jeder ein Buch, ich war im Land der Bücherwürmer. Puschkinplatz. Am Abend wollten wir und wiedersehen.

Beginnende Dämmerung. Auf der riesigen nackten Betonplatte zwischen Hotelkoloss und Fluss schritten im Abstand von zweihundert Metern zwei Menschen aufeinander zu. Der lange rote Schaal und alles Violett, und die Jeans mit der Jeansjacke, alles Blau. Wo war die Filmkamera, welche diese nicht enden wollende Sequenz festhielt? Nein, sie dürfe nicht mit ins Hotel, da dürfen nur Ausländer rein. Das war schon klar, für mich jedoch kein Gegenargument, zu oft hatte ich die sozialistischen Aufpasser reingelegt, immer die gleiche Masche, am schönsten im Belvedere in Dresden, dem offiziellen Transithotel auf der Durchreise nach oder von Polen. Eine Nacht war erlaubt, Einzelzimmer, mit wirklich nur einem Bett für eine schmale Person.

Es gab immer einen Hotelausweis und einen Zimmerschlüssel mit einem Riesenklunker dran. Sie ging zuerst, mit dem Riesenklunker lässig in der Hand, kein Blick zur Rezeption, überhaupt kein Augenkontakt, schnurstracks zu den Fahrstühlen und vor allem im aufrechten Gang. Alle DDR-Menschen gingen innerlich gebückt, und das sah man. Also unbedingt hohles Kreuz, das hatten wir geübt. Fünf Minuten später ging ich, mit dem Hotelausweis lässig in der Hand. Mein Gepäck hatte ich vorher raufgebracht. Das Frühstück wurde immer extra gezahlt. Ich erkannte Philipp Rosenthal, den bundesdeutschen Porzellankönig, sie erkannte seinen Gegenpart, DDR-Chefdesigner, persönlich bekannt, beide mit ihren Mannschaften. Wir liessen uns an einem Nebentisch nieder und genossen ein frugales Frühstücksbuffet. Irgendein DDR-Organ wird es dann schon bezahlt haben. Wir hatten einen wunderschönen Tag vor uns, die Grenze musste ich vor Mitternacht passiert haben.

Jeder Hotelflügel hatte mittig einen repräsentativen Eingang mit Schwingtür. Meiner lag dem Fluss gegenüber, mein Zimmer hätte ich durch die anderen drei nicht erreichen können. Jedem der vier Eingänge war ein nachträglicher Vorbau verpasst worden, mit zwei Türen, jede in den Ausmaßen einer ganz normalen Zimmertür. Im Vorbeu standen zwei oder drei natürlich vollkommen unauffällige Sicherheitsleute rum, an jeder der Zimmertüren standen außen links und rechts zwei uniformierte Männer, an der Schwingtür und in der Lobby weitere Exemplare der Unauffälligen, alles verglast. Den aufrechten Gang, den hatte sie. Absolut kein Augenkontakt, und kein Wort, der russischen Akzent war so schnell nicht wegzukriegen. In der Lobby standen standen so etwa zwanzig Koffer vor der Rezeption.

Ich packte ihre Hand, ließ sie nicht mehr los, zog sie hinter mir her, in der anderen Hand den Hotelausweis und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Koffer, stets deutlich und laut Englisch zu ihr sprechend, durch die sich öffnende Zimmertür, durch den Vorraum, durch die sich öffnende Schwingtür, schnurstracks zu diesen Koffern, an zweien kurz die Namensschilder inspizierend, Wendung um ca. 120 Grad weg vom Eingangsbereich und hin zu den Fahrstühlen, es kam natürlich nur der eine in den sechsten Stock infrage, Restaurant. Schon an der Fahrstuhltür waren wir dem Blickfeld aller hochspezialisierten Wachleute aus dem Eingangsbereich, Schlafleute, entwichen, dafür besahen uns jetzt andere, für die wir jedoch irgendwo den Stempel der Legalität trugen, denn sonst hätten wir nicht hier sein können. Einen langen Abend quatschten wir uns die Seelen aus den Leibern, persönlich, künstlerisch, politisch. Eine solche Partnerin, Gegenspielerin und Mitstreiterin in Bochum und das Figurentheater der BRD hätte jetzt anders ausgesehen, nicht vorherrschend fröhlich-verkniffen so klein, die Leuchttürme fehlen, die gro0en Ensembles, die konsequentes Figurentheater machen. Nein, eine Demokratie jetzt in der UdSSR würde nicht funktionieren, die Russen haben nur gelernt zu gehorchen, unter den Zaren und den Kommunisten, wir bräuchten für eine Übergangszeit einen freundlichen Diktator, kann es das geben?

Der Flieger ging am Nachmittag. Ich wollte mir unbedingt eine Flasche Krimsekt besorgen. Im ersten Laden wurde ich nicht bedient, nicht wegen der Sprachschwierigkeiten, sowas kann man auch stumm kaufen, die Flaschen standen in den Regalen, die Verkäuferinnen hinter den Ladentischen, ich als Einzelmensch davor. Sie waren nicht unfreundlich, aber sie bedienten mich nicht. Nun gut, im Sozialismus war der Kunde Bettler, nicht König, das kannte ich aus der DDR, weshalb ich ebenfalls sehr freundlich blieb, wegen fortwährender Erfolglosigkeit den Laden jedoch mit innerlichem Kopfschütteln verließ. Aus dem zweiten Laden, ebenfalls leer, wurde ich, kaum hatte ich ihn betreten, hinauskomplimentiert. Mein Gehirn, das gute Stück, hatte nicht registriert, dass sich auf der entgegengesetzten Seite der Eingangstür eine Schlange von etwa zwanzig Männern gebildet hatte. Ich sollte mich hinten anstellen. Aber warum ging niemand in den Laden? Die Tür war offen. Einfach: Gorbatschow hatte ein Dekret erlassen. Kein Alkoholverkauf vor zwölf Uhr. Für ein Land, in welchem die Männer das Saufen beim Aufwachen beginnen, eine harte Übung.

Mein gutes Stück lieferte seine Meisterleistung eine Woche später ab. Erfurt. Das DDR-Organ für Kultur hatte zu einem Figurentheaterfestival eingeladen, viele Bühnen, zum erstenmal, aus der BRD, peinlich, peinlich, was da abgeliefert wurde. Sie war offiziell da, ich auch. Großes Feuerwerk um Mitternacht, die DDR-Mark wurde abgeschafft, die DM begrüßt und gefeiert, die ultimative Niederlage für alle im Marxismus-Leninismus geschulten Sozialisten. Um vier Uhr in der Nacht riss sie mich aus dem Tiefschlaf, hatte sie überhaupt geschlafen? Sie müssse mit dem ersten Zug zurück nach Berlin. Ihr Name kam mir nicht aus dem Mund, das Gehirn war taub, und schließlich: Ewaka. Riesige Empörung, auch das noch. Immerhin, ich hatte die Namen jener drei Frauen, die mich zutiefst beschäftigten, in einen Namen vereinigt. Ka für Katja.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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