1985 - 29. FIDENA
VARNA
Das Festival in Varna (Bulgarien) war mir bekannt, da ich jährlich in aufdringlicher Regelmäßigkeit eine Einladung zu ihm erhielt. Es fand im Oktober statt, zu einer Zeit somit, zu der ich gesteigerte Anforderungen erfüllen mußte: alle Publikationen mußten derart vorbereitet werden, daß sie noch im laufenden Jahr gedruckt werden konnten, eine Vorgabe der kameralistischen Buchführung; die Finanzierungspläne neuer Projekte im kommenden und übernächsten Jahr mußten eiligst fertiggestellt werden, damit eine Aussicht auf Förderung mit öffentlichen Mitteln bestand; Mitgliederversammlung und Vorstandssitzung mußten fristgerecht einberufen werden, damit sie auch im November stattfinden konnten; das Figurentheater-Kolleg benötigte neue Dozenten, diese mußten gefunden und verpflichtet werden. Für 1984 hatte ich mir eine Woche freigeboxt, stand allerdings derart im Stress, dass ich keine Ahnung hatte, wo Varna geografisch war, ich wußte nur, Osten, Oktober, also noch kälter als bei uns schon, Wintersachen einpacken, Winterstiefel, Schal, Winterjacke, Pullover, eine Badehose für den Fall, dass es im Hotel ein Schwimmbecken gab. Der Zoll im Flughafen Varna pflückte mich liebevoll nach allen Regeln der Kunst auseinander und fand doch nur die eine Flasche besten Whiskys als Gastgeschenk.
Die Empfangshalle war menschenleer. Wo war ich? Am entgegengesetzten Ende der Hallendiagonale drei oder vier Menschen in einem Klumpen. Den Namen des Festivalchefs und Theaterleiters kannte ich, rief laut, Todorov! Ein kleiner rundlicher Gewaltmensch raste auf mich zu, die anderen hinterher, Dr. Klünder, Handschlag, Umarmung und schnappte sich meinen winterschweren Koffer, der mußte getragen werden, Rollkoffer waren noch nicht erfunden. Draussen war es warm, Hochsommer, so ein Blödsinn. Ja, natürlich, hier ist das Schwarze Meer, wir haben einen langen Sommer und einen Superstrand, eine zierliche, ehemalige Deutschlehrerin amüsierte sich, meine Dolmetscherin.
Todorov mußte ein stabiles Netzwerk in dieser Stadt aufgebaut haben, sein Theater, Stadttheatergröße, zeigte sich in Bestform, und das Festival glänzte. Der schwere Rotwein, Kosmonauten sollen ihn getrunken haben, so berühmt sei er, und diese Hartwurst mit dem sehr eigenen Geschmack, Lukanka, konnten süchtig machen. Und in der Nähe sei ein altes Gräberfeld, in welchem kiloweise Gold gefunden wurde. Erst viele Jahre später erfuhr ich, daß man sich in der Altersbestimmung um einige Tausend Jahre verschätzt hatte, weil man sich nicht vorstellen konnte, was nicht sein durfte. Nicht in Mesopotamien, sondern auf dem Balkan war die erste Hochkultur weltweit entstanden, Großsiedlungen, Kupferschmelze, Goldschmelze, vor mehr als siebentausend Jahren, somit rund zweitausend Jahre vor den Errungenschaften des Zweistromlandes. Varna als doppelt so alte Siedlung wie Rom.
Weit und breit war ich der einzige Kapitalist dieses Festivals. Einige Ostblock-Bühnen mit ihren Kindervorstellungen, auch von weither aus der UdSSR und - anders als in Bielsko-Biala - auch aus der DDR. Meine östlichen Landsleute schotteten sich ab, traten immer als Gruppe auf, sich gegenseitig bewachend, vor allem Abstand haltend zu diesem Kapitalisten, von dem man ja gehört hatte. Und mittendrin eine Frau, die Schmetterlinge in meinem Bauch explodierten wie Minigranaten. Wie nur rankommen, wie sie nur isolieren von den anderen. Einfach rangehen und belanglose Sätze sprechen, unmöglich, ein ganzes Land hätte Bescheid gewußt. Ich stand auf einem Präsentierteller und konnte mich nicht bewegen. Die Vermittlung einer anderen Person suchen? Das wäre an Naivität nicht zu überbieten gewesen. Per Bus und mit Dolmetscherin fuhr ich zum Strand, sie blieb draußen, ich legte mein Handtuch auf eine freie Ecke in der Nähe des Eingangs, Winterstiefel, Jeans und Pullover obendrauf und begann in Badehose und Unterhemd einen kilometerlangen Spaziergang, den Riesenstrand rauf und runter, zum Zwecke des Frustrationsabbaus.
Neben meinem Handtuch lag ein zweites Handtuch, keine 15 cm entfernt, darauf Sie. Wie heißt das? Lebensabschnittsliebe. Mein Zweitpaß war von vorn bis hinten übersät mit den Abdrucken der stempelwütigen DDR-Grenzorgane, mein Wagen hatte eine Tarnkappe (die Schönsten der DDR Nomenklatur fuhren das baugleiche Stück, Citroen BX hellbraun), niemals angehalten, mit 150 km/h über die verkanteten Betonplatten aus der Nazizeit, Einzelradaufhängung mit hydropneumatischer Federung. Am frühen Nachmittag des 11.11.1989 spielten wir an der Berliner Mauer Mauerspecht.
DAS PROGRAMMHEFT