1986 - 30. FIDENA
CHENGDU
Die schönsten und bei weitem größten Schattenfiguren weltweit gab es in der chinesischen Provinz Sichuan. Das wusste ich aus meinen Studien 1973-1976 in Hong Kong, ich hatte zum herausragenden Sammler dieser Figuren in Deutschland, Dr. Max Bührmann, brieflichen Kontakt aufgenommen und eine Einladung erhalten, die ich nach Beginn meiner Arbeit in Bochum im Spätsommer 1976 nicht einlösen konnte, da mein Briefpartner wenige Monate vorher verstorben war. Ich sah diese Figuren dann zum erstenmal im Ledermuseum in Offenbach. Ihre viel kleineren Verwandten, aus Leder, ebenso delikat geschnitten und farbig durchscheinend, aber mit gänzlich anderer Führungstechnik, sah und filmte ich 1975 auf Formosa. Dorthin waren sie vor mehreren hundert Jahren, wie übrigens auch die etwa gleich großen Handpuppen und dann auch die Marionetten aus der Formosa gegenüber liegenden Festlandprovinz Fukien gekommen.
Die Provinz Sichuan war in der Geschichte Chinas, begünstigt durch die geografische Lage, umgeben von Gebirgszügen, stets recht unabhängig gewesen; in der Hauptstadt Chengdu, dem Tor nach Tibet, gab es einen Palast, der in Größe und Pracht dem in Peking nur wenig nachstand, und hier gab es die berühmten Schattenfiguren. Der Palast war während der Kulturrevolution dem Erdboden gleichgemacht, die Schattenfiguren vielleicht gerettet worden? Das wollte ich wissen und gegebenenfalls eine Theatertruppe mit diesen Figuren zur FIDENA einladen. Dabei wollte ich nicht den üblichen Weg über die Zentralregierung in Peking gehen, sondern direkt mit Chengdu verhandeln. Eine Anschrift hatte ich nicht, meine Frau Ginny, die in Hong Kong als Universitätslehrerin arbeitete, signalisierte mir zu meiner Überraschung Unterstützung. Meinem Schreiben folgte eine Einladung für Ginny und mich (ich hatte nicht erwähnt, dass ich mit einer Chinesin verheiratet bin) durch Stadtrat Chengdu und Provinzrat Sichuan, höher ging es nicht.
Ginny hatte ihre eigenen Reisevorstellungen, ich wäre von Hong Kong direkt nach Chengdu geflogen, wir fuhren mit dem Zug nach Kanton, das waren die ersten ca. hundert Kilometer einer Eisenbahnreise nach Berlin. Jeder Chinese hat seinen losen Tee und seinen Becher mit Deckel dabei, das kochende Wasser wurde frei Haus aus einem großen Aluminiumkessel, an dem ein Mädchen hing, eingeschenkt, dazu überall weiße Spitzendeckchen, noch Handarbeit?
Im Sommer 1976 auf jeden Fall noch Handarbeit, etwa fünfzehn Deutsche aus Hong Kong auf der ersten Reise einer westlichen Gruppe noch während der Kulturrevolution, Tschou En-Lai war kurz vorher gestorben, Mao lebte noch, in das Rote Reich, nach Kanton und Umgebung und per Flugzeug nach Kweilin, in eine der schönsten Landschaften Chinas. Ginny gehörte nicht zur Gruppe, machte sich aber selbst auf den Weg, traf uns im Hotel in Kanton und erzählte von zweien ihrer Kusinen, ich hatte keine Ahnung, dass es noch Verwandte gab, die berichteten, dass es in ihrem Dorf weder Salz noch Seife gab und wir alle so gut es ging das Hotel von diesen zwei Kostbarkeiten befreiten.
jetzt also wieder in Kanton, aber nur, um zwei Flugkarten nach Kunming, dem Tor nach Indochina zu ergattern, für mich als Ausländer zum dreifachen Preis, immer noch spottbillig, nicht das Fahrkartengeld, anderes war wichtiger, Ginny schaffte es. In Kunming auch ein Cousin, mit Familie, noch so ein mysteriöser Verwandter, am Stadtrand mit Hühnern und Schwein, so wie bei uns Hund und Katze, aus- und eingehend. Physiker, Forschungsbereich Telepathie. Wie bitte? Ich bat um eine Demonstration.
Er kam mit zwei Mädchen, so um die zwölf Jahre alt, in unser Hotelzimmer. Experiment Nummer eins. Ich möge auf zehn Zetteln je ein Zeichen schreiben, eines der Mädchen würde sie dann kennen. Unsinn. Herr der Experimentanordnung war ich, kein Risiko, keine Verfälschung. Ich ging ins Badezimmer, schloß die Tür, riss aus der Klopapierrolle zehn etwa gleich große Stücke in Quadratform, schrieb mit dem Hotelkugelschreiber auf jedes Stück ein einfaches Zeichen, Großbuchstaben des lateinischen Alphabets, arabische Zahlen, chinesische Schriftzeichen und knüllte jedes Papierstück fest zu einem Kügelchen, verlies das Badezimmer und legte die zehn Kügelchen auf den Tisch, an dem wir fünf saßen. Eines der Mädchen nahm mit Zeigefinger und Daumen der rechten Hand ein Kügelchen und legte ihre Hand in die linke Achselhöhle, etwa fünfzehn Sekunden. Gab mir das Kügelchen, nahm den Kugelschreiber und schrieb ein Zeichen auf den Hotelnotizblock. Ich öffnete das Kügelchen und stellte sachlich die Übereinstimmung beider Zeichen fest. Zehnmal. Ein Zeichen war um 90 Grad gedreht. Ende.
Experiment Nummer zwei. Ich möge aus einem Buch eine Zeile aufschreiben, das Mädchen würde sie kennen. Ich kramte aus unserem Reisegepäck das dickste Buch, etwa zweihundert Seiten stark, klein, mein englischer Chinaführer, legte es auf den Tisch. Der Physiker gab es dem anderen Mädchen, ich war sicher, es hatte noch niemals lateinische Buchstaben gesehen, es nahm das Buch in die Hände, sah es an und ließ die Seiten durch Daumen und Finger rasseln, so vier Sekunden, legte es auf den Tisch. Ich schloss mich im Badezimmer ein, schrieb eine Zeile auf das Klopapier, steckte es in meine Hosentasche, legte das geschlossene Buch auf den Tisch. Das Mädchen legte das Buch, ohne es geöffnet zu haben, unter ihren linken Oberschenkel, vielleicht so fünfzehn Sekunden, legte es wieder auf den Tisch und begann mit diesem Kugelschreiber auf dem Hotelnotizpapier zu schreiben. Die Buchseite stimmte, die Zeile stimmte, nur zu einem Drittel, Zweidrittel hatte sie von der nächsten Buchzeile notiert, die ich allerdings nicht aufgeschrieben hatte. Tja, wat nu?
Am effektivsten trainieren und arbeiten wir mit jungen Menschen, welche die Pubertät noch nicht erreicht haben. Und was haben Sie als Physiker damit zu tun? Er lacht gequält, nun ja, das dürfe er wohl nicht sagen. Mit Elektronen habe das schon zu tun. Wir gaben den Mädchen von unseren Keksen, wenn Ginny auf Reise geht, dann packt sie Unmengen von Keksen aller Art ein, von denen wir meist mehr als die Hälfte wieder nach Hong Kong zurückbringen. Ihre Mutter machte vor der Kulturrevolution mal eine Kurzreise nach Kanton und nahm als Notproviant einen fünf Kilo Sack Reis mit. Macht das jeder Chinese?
Ginny wollte nicht nach Kunming, um mir den Physiker zu zeigen, sie wollte mit der Eisenbahn von Kunming nach Chengdu fahren, von den Kommunisten erbaut, die berühmteste Strecke Chinas. Sie läuft etwa von Süd nach Nord, die Ausläufer des immerhin fünf Kilometer hohen tibetischen Plateaus fielen mit den vielen Flüssen von West nach Ost ab. Die Eisenbahntrasse konnte somit nicht, wie sonst üblich, einem Flusslauf folgen, sie musste, wie es schien, mehr als hundert Flussläufe überqueren, dabei jedoch nicht ständig rauf und runter, sondern immer in gleicher Höhe, die Täler in großer Höhe überqerend. Tunnel, Brücke, Tunnel, Brücke, kaum hatten sich die Augen an die Helligkeit gewöhnt und unten im Tal ein Dorf ausgemacht, wurde es schon wieder schwarz, Stroboskopie im Zeitlupenformat, jede Hochbrücke, jeder Tunnel eine meisterliche Ingenieurleistung.
In Chengdu erwarteten uns zwei Beamte, in Zivil. Ab ins Auto, die Stadt übersäht mit frischblühenden Hibiskusstauden, rot, an den straßen-seitigen Rabatten, Blutspuren, in ein riesiges Regierungsgebäude, zu einem Oberchef, Begrüßung, Freude, ein altes Ehepaar, so um die achtzig. Ginny kannte sie. Der Oberchef erklärte ausführlich, die gesamte Kommunikation sei über den alten Herrn gelaufen und der, bisherige, Erfolg sei ihm zu verdanken. Dieser begrüßte mich auf Deutsch und meinte, ich bin der Bruder Ihres Schwiegervaters. Ins Hotel, Regierungshotel. Ob nun Wanzen oder nicht, ich wollte von Ginny die Auflösung dieser Familiengeheimnisse. Schwiegervater, 1975 verstorben, war einziger Überlebender seiner Großgrundbesitzerfamilie, enteignet und schließlich alle erschossen, das wusste ich. Der alte Herr war nicht Bruder oder Halbbruder, sondern Studienfreund, Blutsbruder. Beide von deutschen Ärzten ausgebildet in Kanton, beide Ärzte bei der Eisenbahn der Kuonmintang. Schwiegervater gelang die Flucht 1949 mit Frau und zwei Kindern nach Hong Kong, dort vier weitere Kinder und Arztpraxis. Der alte Herr blieb bei den Kommunisten, überlebte als Arzt für Funktionäre, ernährte sich und seine Familie zeitweise von den Wurzeln der Grashalme. Der Physiker in Kunming ist sein Sohn.
Nun ja, und was ist mit den zwei jungen Frauen mit Seife und Salz 1976 in Kanton? Eine ganz andere Geschichte, Familientabu. Großvater war sehr reich, sein Haus, der von einer Mauer umgebene Garten- und Gebäudekomplex hatte fast hundertfünfzig Schlafzimmer, er erzog seine Söhne auf traditionelle Art. Unmittelbar nach der Geburt wurde der Sohn der Mutter genommen und einer Amme an die Brüste gelegt. Dem Kleinkind wurde dann ein etwa fünf Jahre älteres Mädchen zur umfassenden Versorgung und Betreuung gegeben, sehr umfassend die Versorgung, jedenfalls kamen in sehr jungen Jahren mehrere Kinder zur Welt, und unter normalen Umständen wäre diese Frau dann, sofern Söhne geboren wurden, Ehefrau Nummer eins geworden. Diese Frau überlebte mit ihren Kindern in einem Dorf bei Kanton. Wir hatten 1976 zwei ihrer Enkelinnen getroffen. Als Ginnys Mutter, sie war als Hebamme ebenfalls von deutschen Ärzten ausgebildet worden, nach der Heirat von der Existenz dieser Frau mit ihren Kindern erfuhr, wurde die Weltkugel auseinander genommen.
Zum Abendessen hatte die Regierung eingeladen, im Restaurant unseres Regierungshotels. Ich wusste, was kam und hatte mich diplomatisch vorbereitet, direkt vor Beginn der mehrstündigen Veranstaltung nahm ich zwei kräftige Schlucke aus meiner Flasche mit Olivenöl, das versiegelt den Magen und verhindert für einige Zeit, dass der Alkohol zu schnell ins Blut gelangt. Diplomatentipp. Obwohl ich in der Öffentlichkeit niemals einen betrunkenen Chinesen gesehen habe, verstehen sie beim Alkohol keinen Spaß. Zum Glück wird nur beim Essen getrunken und essen heißt kleine Vorspeisen im Häppchenformat, Reis, Nudeln, Melonen, Orangen und manchmal eine süße Suppe zum Abschluss, dazwischen neun Hauptgänge der kulinarischen Extraklasse. Zu Beginn meiner Annäherung an die Chinesen, Anfang 1971 also bei formalen Abendessen des deutschen Generalkonsulats in Hong Kong, während der Kulturrevolution die einzige diplomatische Vertretung Deutschlands für ganz China, war ich erstens nach dem vierten Hauptgang voll, weil ich nicht begreifen wollte, dass noch fünf folgen werden, und litt an Magenerweiterung, und zweitens hatte ich erfolglos versucht, mein Bierglas zu leeren, was mir niemals gelang und mich in einen übermäßigen Bierkonsum trieb, weil die Kellner, kaum hatte ich die Hälfte des Bieres getrunken, stets jenen Moment abpassten, in dem meine Aufmerksamkeit einer der vielen interessanten Unterhaltungen galt und mein Glas wieder bis zum Rand auffüllten, schlimmer als im Schlaraffenland.
Zum Glück musste ich an keinem formalen Essen während der Cognac-Mode teilnehmen, Cognac wurde aus Zahnputzgläsern getrunken, randvoll. Hong Kong war der zweitgrößte Cognac-Markt weltweit. Die Franzosen hatten mit den Chinesen bald ein Nachsehen und führten die Cognac Gläser ein, wohl nur, weil sie diesen Saft für die Festlandchinesen brauchten, Hennessy verkaufte 2007, und kam mit der Produktion nicht nach, mehr als 600 000 Kartons VSOP, zu je 12 Flaschen, für Longdrinks.
Als Ehrengast kam auf mich an diesem Abend etwas ganz anderes zu. Chinesen trinken zum Essen Schnaps, unsere Schnapsgläser, voll, würden sie unsere gekühlten Wässerchen kippen, so um die 40%, würden sie verdattert in die Runde sehen, wo ist der Alkohol? Der Beginnt bei 70%, es sei denn ein Gesundheitsschnäpschen mit Schlangengalle oder so, der hat um die 55%. Die Trinktechnik kannte ich aus der Wiener Studentenzeit mit dem 80 prozentigen Strohrum. Der chinesische Schnaps hat bis 80 Prozent und schmeckt grauslich, den kann man nur schnell und gänzlich runterkippen, muss man auch, denn zum Beweis der tollen Tat wird das Glas für alle sichtbar um 180 Grad gedreht und wehe da fällt noch ein Tropfen raus. Am Tisch saßen zwölf Personen, Ginny und ich, der alte Herr mit seiner Frau und acht von der Regierung, von welcher, Stadt oder Provinz, war mir egal, es hieß acht gegen mich. Jeder stieß einzeln mit mir an, acht Schnapsgläschen vom tatsächlich besten, Mao Tai, 80%. Ich revanchierte mich mit einem Gegentrinkspruch, dann allerdings für alle acht. Während ich also sechzehn zu trinken hatte, mindestens, kam jeder der acht auf neun, immerhin, das war schnell ausgezählt, ich wollte sie mitnehmen.
Ginny sah dem Treiben mit naturwissenschaftlicher Neugierde zu. Es wurden viele schöne Trinksprüche ausgesprochen, einer schöner als der andere, immer unverbindlich, ob denn der Palast vollkommen zerstört sei, ja, der Anführer sitzt im Gefängnis, ob denn die Schattenfiguren gerettet seien, ja, sie liegen in der Universität. Bei zunehmender Benebelung bemerkte ich, dass sich mein Gegenüber, vielleicht der Häuptling, Nullprozentiges, war ja die gleiche Farbe, das heißt, keine, heimlich einschenkte und fleißig mitprostete. Der brutalen Offenheit, die sich bei solch einem Gelage einstellt, war es geschuldet, dass ich auf diesen Umstand aufmerksam machte. Betroffenheit. Ich hatte sie alle nackt ausgezogen. Medizinische Gründe, von mir sofort mit einem gezielten Trinkspruch auf die Gesundheit akzeptiert.
Bei den Engländern, Australiern, Iren, Neuseeländern ein ähnliches Ritual, will man Freundschaft schließen, besäuft man sich, mit Bier, bis zur Besinnungslosigkeit, Lebensbeichte, hakt den Folgetag ab und hilft sich gegenseitig irgendwie aus der Scheiße. Nicht die Amerikaner, erst ab 21 darf man in eine Bar oder Alkohol kaufen und die Flasche um Himmels willen nicht offen tragen, sie gehört in eine Tüte, oder gar öffentlich trinken. Diese Moralapostel haben das Land freigeschossen und besiedelt, sie haben Europa verlassen, weil sie mit der Aufklärung nicht klar kamen und jagen einem heute mit ihrem Sendungsbewusstsein Furcht und Schrecken ein, indem sie als Fundamentalprotestanten auf Teufel komm raus die Welt regieren und verbessern, demokratisieren und verchristlichen wollen. Zum Ende des Abendmahls, alle Danksagungen und guten Wünsche waren gesagt, ging es abrupt, wie üblich, auseinander. Ginny und ich zwei Stockwerke tiefer, wenige Meter, ins Hotelzimmer, auf die Knie, vor der Toilettenschüssel, Stinkefinger in den Schlund und alles raus, alles. Die Nacht war gemischt, der nächste Tag gerettet.
Ginny hatte die Angewohnheit, mich zu ärgern; so übersetzte sie Soße mit Suppe, wohlwissend, dass ich ein Bewunderer chinesischer Soßen zu den vielen verschiedenen Nudeln und mit Gemüse oder Fleisch gefüllten Teigbällchen, gekocht oder gebraten, bin und Suppen nicht ausstehen kann, vor allem nicht die aus der Nachkriegszeit berüchtigte falsche Sagosuppe. Es gab, wann immer möglich, Sagosuppe, mit süßem Lächeln, extra für mich bestellt, und ich schluckte natürlich zwei Schüsseln voll, weil sie ja so gut schmeckte, was sie, das erzählte ich Ginny nicht, tatsächlich auch tat, weil sie im Gegensatz zur Nachkriegs-sagosuppe aus echtem und damit sehr weichem Sago zubereitet war. Mein Suppenwaterloo und ihr Suppensupersieg erlebten wir in Chengdu.
Am Vormittag stand der Besuch im städtischen Figurentheater an, mit einer Auffürung für mich. Von außen eine unscheinbare große Blechbaracke, innen ein Zuschauerraum mit leicht ansteigenden, etwa 400 Sitzplätzen, keine Balkone oder gar Logen, kommunistisch eben, die Bühne voll ausgestattet inklusive einer Drehbühne. Ich erwartete eine Aufführung mit den berühmten großen Schattenfiguren aus dieser Provinz Sichuan. Ich sah den größten Kitsch meines Lebens. Eine Aufführung mit kindergroßen Stockfiguren ab Bauchnabel über der Spielleiste, alles in grellsten Bonbonfarben, aber auch alles, eine traditionelle chinesische Sage, immerhin kein kommunistischer Stoff. Die Theaterleitung erwartete mein Urteil und eine Einladung, ich lobte die makellose Führungstechnik und das technisch aufwendige Bühnenbild, ich sagte nichts, und wir verabredeten uns zum Abendessen, eine Überraschung wurde angesagt.
Ginny versuchte niemals, meine Entscheidung zu beeinflussen, ihr war das schlicht sehr egal, ich beschäftigte mich mit Geistern, sie hielt sich raus, sie hatte Größeres arrangiert. Nicht in meinen fürchterlichsten Albträumen hätte ich mir vorstellen können, dass es irgendwo in der Welt, auch nicht in China, ein Restaurant geben könnte, das als Spezialitätenrestaurant ausschließlich Suppen anbietet. Die ersten drei Suppen hatten noch gut geschmeckt, es waren ja auch die unglaublichsten Einlagen mit drin, die vierte wurde zur Zumutung, und alle weiteren zur Katastrophe, immerhin, alle mussten mitlöffeln, sieben, wobei meine Schüsseln stets doppelt so groß zu sein schienen. Trinksprüche mit dem dazugehörigen Alkohol gab es auch, viel weniger, eine Einladung sprach ich nicht aus, ob ich denn die Schattenfiguren in der Universität sehen könne, nein, sie müssten erst restauriert werden, aber das werde bestimmt gemacht, und wir vertrösteten uns gegenseitig auf eine Zusammenkunft am nächsten Tag. Mein Gott, war ich sauer.
Während in der Nacht meine Blase langsam wieder zu ihrer Normalfunktion zurückfand, hatte ich genügend Zeit, über eine Einladung nachzudenken. Künstlerisch war nichts vorhanden, die Darbietung eines besonderen oder wenigstens interessanten traditionellen Formats war nicht möglich, im Gegenteil, das war 08-15 des gesamten Ostblocks, immerhin aus dem Ursprungsland, von den Russen abgekupfert und von ihnen in alle beherrschten Länder exportiert. Das hier war einfach nur traurig, die Kulturrevolution hatte mit der Auslöschung fast aller traditioneller Kunstformen gute Arbeit geleistet, nur die Technik stimmte noch, der Bau und die Führung der Figuren, und die alte Vorlage. Ich schuldete niemandem etwas und fühlte mich in meiner Entscheidung vollkommen frei.
Ich entschied mich aus niedrigeren Gründen für eine Einladung. Die Aufführungen in Deutschland würden ein großer Erfolg werden, die China-Manie wollte beginnen, das wusste ich aus meinen beiden Gastspielen des chinesischen Handpuppentheaters 1976 und 1977. Die drei Aufführungen in den Kammerspielen des Bochumer Schauspielhauses wurden bis an den Rand der Bewusstlosigkeit gefeiert, die Lokalpressse konstatierte eine Zuschauerbegeisterung wie es das Bochumer Schauspielhaus noch niemals erlebt hatte, armer Peymann. Die weiteren Aufführungen in den anderen ... Städten waren ein Siegeslauf Chinas. Für eine Verständigung unserer Länder hatte ich mal wieder etwas Sinnvolles getan. Zum erstenmal hatte ein Theater des kommunistischen China das Land in Richtung Europa verlassen und zum erstenmal überhaupt in der Geschichte ihrer Provinz war ein Theater Sichuans erfolgreich ins Ausland eingeladen worden.
Die Zentralregierung war verschnupft, sie schickte mir einen Vertreter der zentralen Kulturbehörde nach Deutschland, ich möge in Zukunft die Verhandlungen direkt mit Peking führen. Der Provinz hatte ich es nicht so leicht gemacht, die Transportkosten außerhalb Deutschlands für immerhin ... Personen und viel Bühnenmaterial könnten wir nicht übernehmen und dem Theater sicherte ich für seine diversen Kulisen- und Prospekschiebereien keine Drehbühnen zu. - In Chengdu findet 2010 der Weltkongress der UNIMA, Union Internationale des Marionettes, einer Unterorganisation der UNESCO statt, Präsident ist Dadi Pudumjee, Regisseur der ersten von mir in die Bundesrepublik eingeladenen DDR-Inszenierung zur 24. FIDENA 1980 mit seiner Inszenierung 'Der doppelte Schatten' und Finanzvorstand der UNIMA ist Annette Dabs, meine Nachfolgerin als FIDENA-Chefin in Bochum.
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