1987 - 31. FIDENA
VILNIUS
Jerzy Zitzman, Direktor des Staatlichen Figurentheaters in Bielsko-Biala und Leiter der dortigen Figurentheater-Biennale, machte mich gezielt auf ein herausragendes Figurentheater in der UdSSR, welches er auf einem dortigen Festival gesehen hatte, aufmerksam. UdSSR also, in Vilnius, dem alten Wilna, Hauptstadt des früheren Litauen. Das war 1985 zu Hochzeiten des Kalten Krieges, Gorbatschow war gerade eben zum Generalsekretär gewählt worden, eine Herausforderung. Von einem Gastspiel eines staatlichen Figurentheaters (private gab es nun wirklich nicht) der UdSSR in einem kapitalistischen Land war mir nichts bekannt.
Der normale Weg aller Kommunikation hätte über das Auswärtige Amt geführt und bei einem diplomatischen Interesse von dort, hätte es vielleicht auch einen kleineren Zuschuss gegeben. Nun hatten wir im Institut keine Verwaltungsabteilung, ich war allein und war deshalb stets auf die kürzesten Wege und auf den geringsten Verwaltungsaufwand angewiesen. Aus diesem Grunde wollte ich die allmächtige Zentrale in Moskau (weiss der Teufel, welches Figurentheater mir von dort zugewiesen worden wäre, welche Verzögerungen hätten durchgespielt werden müssen) umgehen und mich direkt an das Staatliche Figurentheater in Vilnius, mehr als diesen Namen hatte ich nicht, wenden.
Es war ein unglaublicher Zufall, dass ich seit einigen Jahren Herbert und Wanda Assé kannte, Marionettenspieler, die ausschliesslich mit den Marionetten von Fritz Herbert Bross, wie Bairle und Roser in Stuttgart auch, spielten, von Schule zu Schule fahrend. Herbert war ein Organisator und Perfektionist der Extraklasse, Wanda war Litauerin. Sie wohnten südlich des Ruhrgebietes in einem sehr grossen Fachwerkhaus. Mit ihrem edlen Wohnmobil fuhren sie in den Sommerferien über Minsk, dieser Umweg war die vorgeschriebene Fahrtroute, nach Vilnius. Dort besuchten und versorgten sie Wandas Verwandtschaft.
Die Assés übernahmen die Korrespondenz, per Telefon, Telegramm und Brief, bald erreichten uns Fotos und Texte, und ich machte mich als Tourist per Bahn von Ost-Berlin über Warschau und Bialystok direkt nach Vilnius auf, eine erst kürzlich zuvor eingerichtete Zugverbindung. Auf dem Bahnsteig, viele Passagiere gab es nicht, nahm mich sehr schnell eine nette Dame in Empfang. "Sie sind hier nicht in Russland, Sie befinden sich in Litauen. Herzlich willkommen Dr. Klünder." Perfektes Deutsch. Stadtbesichtigung. Zu Fuss, vor allem im Universitätsviertel, italienische Renaissance, viel davon, mit Arkaden, in einer Gegend, die niemals richtig warm wurde, Arkaden nicht als Schattenspender sorgen sollten, vielmehr architektonisches Zitat waren. Die kleine spätgotische Annenkirche, in filigraner Backsteingotik, Napoleon, der hier vorbeigekommen war, wollte sie abbauen und in Paris wieder aufstellen lassen. Am nächsten Tag eine Autofahrt nach Kaunas. Warum? Mit Sondergenehmigung. Auf der sehr gut ausgebauten Strasse kein anderes Auto, es war im Grunde eine Militärstrasse von Vilnius über Kaunas nach Klaipeda (Memel), einem der russischen Häfen der Ostseeflotte, somit Sperrgebiet. Im Theater wurde ich einem betagten, aber sehr rüstigen Ehepaar vorgestellt, er Intendant und Regisseur, sie Schauspielerin. Beide müssen soetwas wie die Schutzheiligen des litauischen Theaters gewesen sein, ich wurde ihnen als Trophäe dargeboten. Für mich ein unkompliziertes Spielchen, an dem ich gern teilnahm. Ich konnte die Memel sehen und das andere Ufer, jetzt Polen, wo in früheren Zeiten am äussersten nordöstlichen Ende die preussischen Könige und dann bis 1918 die gesamtdeutschen Kaiser ihre Fahnen aufgestellt hatten.
Mit dem Figurentheater in Vilnius war ich schnell einig. Die für die grosse Bühne eines Stadttheaters eingerichtete Inszenierung "Der Erde Tochter" konnte in Einzelteile so zerlegt werden, dass sie im Eisenbahnabteil als anspruchsvolles Handgepäck mitreisen konnte. Das war die technische Seite. Von der künstlerischen Seite konnte ich mich vor Ort überzeugen. Die Lösung der politischen Spielereien mit ihren russischen Okkupationskräften in Moskau überliess ich vollständig den Litauern.
Das Programmheft für die 30. FIDENA war gedruckt, die Verträge für die Anschlussgastspiele in der BRD waren unterschrieben, die Durchreisevisa für Polen und die DDR und die Einreisevisa für die BRD mit Arbeitserlaubnis für Künstler waren ausgestellt. An der Grenze zu Polen, bei Bialystok, genau dort, wo die Eisenbahnwaggons von der russischen Breitspur auf die europäische Normalspur umgesetzt wurden, mussten die Litauer mit allem Gepäck den Zug verlassen, Weiterfahrt ausgeschlossen.
Das kannte ich bereits aus der DDR. Die Ausreisevisa aus der DDR und also auch aus der UdSSR wurden erst am Tag der Ausreise ausgestellt, oder auch nicht. Sie befähigen zur Rückkehr in diese Länder. Scheibenwischer. Die Litauer waren nur konsequent, wenn sie bis an die Grenze fuhren. Die Verweigerung der Visa sah sehr nach einer Retourkutsche aus. Ich möchte nicht behaupten, dass ich soetwas erwartet hatte, vollkommen unvorbereitet traf es mich jedoch nicht, zumal ich grundsätzlich in Alternativen denke. Also noch einmal im nächsten Jahr.
Nun war die FIDENA, immerhin jährlich veranstaltet, das international wichtigste Figurentheaterfestival geworden. Jeder ernstzunehmende Mensch, der in den sozialistischen Ländern mit Figurentheater zu tun hatte, wusste von ihr, zu ihr wurden nicht nur künstlerisch herausragende Inszenierungen eingeladen, sie war auch die einzige Tür in den Westen, ins heimlich ach so gelobte Land, in welchem es die frei konvertierbaren Währungen gab. Mit sozialistischen Währungen konnten fast ausschliesslich nur Produkte aus sozialistischen Ländern gekauft werden, und deren Qualität war, vor allem wenn es um technische Geräte ging, einfach nicht gut genug. Theater konnten westliche Ton- und Lichtanlagen kaufen, was sie taten, und für jeden einzelnen waren Devisen vor allem das denkbar beste Tauschmittel. Tauschhandel, in den kapitalistischen Ländern unbekannt, war für die sozialistischen Länder das gar nicht so heimliche Rückrat der Wirtschaft. Falls es, selten genug, irgendwo mal Pfeffer gab, dann wurde nicht ein Tütchen, dann wurden mehrere Kilo gekauft und in den Kühlschrank gestellt. Den konnte man umtauschen gegen Autoersatzteile, Zement oder Dachziegel, Produkte, an die kein Normalsterblicher herankam, es sei denn, er hätte etwas anzubieten, und Devisen waren besser als Pfeffer.
Kein anderes Festival weder in Italien, Spanien, Frankreich, England, Niederlande lud Inszenierungen aus den sozialistischen Ländern ein. Die Verweigerung der Ausreise eines Staatlichen Figurentheaters aus der Sozialistischen Teilrepublik Litauen sprach sich schnell herum. Die Russen in Moskau hatten plötzlich nicht so gute Karten. Verantwortliche war die kleine energische Dame, Präsidentin der UNIMA der UdSSR, die alle Fäden in ihren Händen hielt, sie allein war die oberste Entscheidungsinstanz in Sachen Figurentheater für alle sozialistischen Länder. Sie war von Sergej Obraszow eingesetzt worden, der wiederum direkt von Stalin mit dem Aufbau staatlicher Figurentheater in allen sozialistsichen Ländern beauftragt worden war und diese Aufgabe offensichtlich hervorragend ausgeführt hatte. Dabei hatte er die Führungstechnik der chinesischen Stockfiguren übernommen und für alle sozialistischen Länder als verbindlich eingeführt.
Meinerseits sprach ich fast beiläufig mit drei westlichen Präsidiumsmitgliedern der UNIMA über die Absage, vor allem aber mit Dr. Richard Purschke, der im UNIMA-Präsidium als juristischer Beirat insofern eine Sonderrolle einnahm, als er nicht von den UNIMA-Mitgliedern der BRD ins Plenum und von dort ins Präsidium gewählt worden war, sondern vom Präsidium selbst für viele Jahre als Mitglied in besonderer Funktion aufgenommen worden war. Die Einladungen zur folgenden FIDENA sprach ich zu identischen Bedingungen aus. Und die Litauer kamen.
Die Dame in Moskau bewies Klasse. Sie lud zu einem Treffen Staatlicher Figurentheater der UdSSR nach Riga ein, Lettland also, wie Litauen Land des Baltikums. Sie lud mich ein, wir gingen sehr freundlich miteinander um, zu verhandeln hatten wir nichts.
DAS PROGRAMMHEFT