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Juli 1976, Beginn der Tätigkeit als Direktor des Deutschen Instituts für Puppenspiel e.V. Eigene Vorgeschichte Überlebender Hamburger des Feuersturms Juli 1943 (Wolfgang Biermann, der etwas Ältere hat das eindrücklich beschrieben), wir wohnten zum Glück im nicht asphaltierten und daher nicht brennenden Ewaldsweg; einer der ersten zwei deutschen Preisträger der UNESCO ART EDUCATION LEAGUE (1953 gewann ich mit einem DIN-A4 Aquarell einen der zwei Preise, die beim internationalen Wettbewerb für Schülermalereien in Japan der Bundesrepublik Deutschland zuerkannt wurden); Studium der Theaterwissenschaft, Phonetik, Kommunikations-wissenschaft, alte Germanistik und Literaturwissenschaft, 4 Semester an der Universität Hamburg. Tätigkeiten im Studententheater, dort Begegnung mit dem schnellen (man munkelte, er wäre wohl ein guter 100-Meter Läufer) Bremer Claus Peymann, der Intendant des Schauspielhauses der Freien und Hansestadt Hamburg werden wollte (die Hamburger haben die Bremer nie ganz voll genommen), sein Studium aufgegeben hatte und dann immerhin Burgtheaterdirektor in Wien und Intendant des Berliner Ensembles in Berlin wurde (letzteres ein Treppenwitz). Ach ja, und Clausi fand es gar nicht gut, dass ich in meiner Kritik zum Auftritt Gisela Mays im Audimax den V-Effekt (Verfremdungseffekt) nicht herausgearbeitet hatte, sie hatte immerhin von einer auf einem Seitentisch platzierten Teetasse genippt, nicht nur einmal, wozu sie die Bühnenmitte jeweils verlassen musste. Für Peymann war Studententheater verkümmertes Stadttheater, er beschäftigte sich mit Brecht, kopierte unglaublich werkgetreu Brechts Zürcher Inszenierung "Antigonemodell" von 1948 mit vier echten skelettierten Pferdeschädeln, und Wolf Redel musste hinter seinem Rücken die Fäuste zusammanballen, damit er an Ausdrucksstärke gewinne. Brecht war die Losung der Tage, der Suhrkamp Verlag wollte seine Ausgabe der gesammelten Werke Brechts verkaufen, und Cheflektor Braun käme zum Studententheaterfestival nach Erlangen. Die beiden mochten sich, und nachdem Brechts 20 Bände gut verkauft waren, kam Handtke, mit Peymann etc. Ich sah Studententheater abgesetzt vom Stadttheater als eigenständige Theaterform und beschäftigte mich mit Tone Brulin und Pavel Kohout. Das Studium in Hamburg konnte nicht fortgesetzt werden, da es Theaterwissenschaft nur als Nebenfach gab und Germanistik/Literaturwissenschaft nur mit Promotion in Richtung wissenschaftlicher Karriere oder mit Staatsexamen Richtung Lehrtätigkeit abgeschlossen werden konnten; ersteres wurde mir nach einer Proseminararbeit über den Harlekin vom Dozenten vorgeschlagen, beides entsprach jedoch nicht meinem Lebensplan, wie ich es übrigens auch ablehnte, mich den Regeln des Handels und der Geldwirtschaft auszuliefern, was für einen echten Hamburger nahe gelegen hätte. Weshalb ich allerdings nie den Versuch gemacht hatte, mich einer Aufnahmeprüfung an einer Schauspielschule auszusetzen, bleibt mir ein Rätsel, ich war wohl zu feige. Immerhin, ich war eine halbe Spielzeit Regie-Volontär am Thalia-Theater, war Moderator einer großen internationalen Studentenveranstaltung mit viel Tanz und Gesang, nahm Ballett- und Sprechunterricht, nachdem ich vorher bei den Boxern war - dort einen späteren Europameister und einen späteren Olympiasieger kennengelernt - und damit mein vieljähriges Violingeprobe auf eine wenig elegante Art zum Abschluss gebracht hatte. Bis heute hat es sich mir nicht erschlossen, weshalb ausgerechnet ich Schüler des Konzertmeisters der Hamburger Philharmoniker war, vermutlich, weil unser Nachbar im Reihenhaus - die Wände waren in der Nachkriegszeit noch dünn - Konzertmeister des anderen großen Orchesters Hamburgs war, der Hamburger Symphoniker, und diesem die Tage durch mein Violinspiel vergrätzt werden sollten, seine Frau jedenfalls sah mich immer böse an.
Wenn man kein Kaufmann ist, geht ein Hamburger nach Wien. In Wien Studium der Theatergeschichte, Kunstgeschichte, Psychologie und Philosophie, Mitbegründer des ersten Cafetheaters im deutschsprachigen Raum - wir spielten zwischen Tischen und Stühlen (so erfolgreich, dass Burgtheaterdirektor Häussermann mich zum Abendessen einlud) - und des ersten Strassentheaters in Wien (abgeschaut in Berlin). Wir setzten unsere Theatertheorien der Praxis aus und enttarnten den Stückeschreiber Brecht endgültig als Leichtgewicht. Nach der Promotion über die geheimen Kommunikationswege in einer Theateraufführung neunmonatige Bildungsreise per Anhalter nach Indien, durch Indien und zurück, ab Januar 1971 in Hong Kong als DAAD-lecturer und Head of Department of German Studies an der Chinese University bis Mitte 1976. Dort 1972 die erste Begegnung mit traditionellem chinesischen Puppentheater, welches für Nicht-Chinesen im Goethe-Institut vorgezeigt wurde, arrangiert von Helga Werle-Burger, der späteren Leiterin des Lübecker Puppentheatermuseums Fey. Das interesssierte mich. In China wütete die Kulturrevolution und versuchte mit allen seit mehreren tausend Jahren kontinuierlich gewachsenen Traditionen (das abendländische Denkvermögen versagt vor dem Phänomen eines derartigen singulären Kulturkontinuums) zu brechen, sie zu zerstören, hier in Hong Kong, britische Kronkolonie, waren die letzten Überbleibsel jahrtausendealter Theatertraditionen zu besichtigen, gespielt von alten Männern, die keine Schüler hatten. Es war abzusehen, dass es diese Kulturreste in ca. zehn Jahren nicht mehr geben wird, keine Franzosen oder Amerikaner, die sich sonst für alles überall zuständig halten, waren zu sehen, die hier hätten archivierend tätig werden können, das wurde jetzt meine Aufgabe. In den ländlichen Gegenden Hong Kongs spürte ich die sehr wenigen Truppen auf Dorffesten auf und fotografierte und filmte. Da waren die Kantonesischen Stockpuppen, bis zur Hüfte über der Spielleiste, drei Kilo und mehr schwer, mit menschengrossen Holzköpfen, punktgenauen Arm-, Augen- und Schrittbewegungen zur stark rhythmisierten Livemusik eines sechsköpfigen Orchesters. Jedem noch so starken Abendländer wären die Arme nach spätestens fünf Minuten abgesunken, diese alten schmächtigen Männer hielten diese Gewichte in Position, sprachen und sangen dazu und vollführten die Tanz- und Schrittfolgen der Chinesischen Oper, denn diese Stücke wurden hier gespielt. Welch eine rigorose und langwierige Ausbildung war hier zu erahnen. Die etwa kleinkindgroßen Marionetten in ihren prächtig bestickten Gewändern bewegten sich zur Musik der hinter ihnen sitzenden Musiker ähnlich präzise. Bei ihnen war noch stärker als bei den Stockpuppen eine magische Dimension wahrnehmbar; zwei derselben Marionetten sah ich dann beim Besuch im Haus des Theaterleiters im Hausaltar wieder, wo sie offensichtlich die Funktionen von Hausgöttern einnahmen, denen bei ständig qualmenden Räucherstäbchen Opfer in Form von Früchten und Speisen dargebracht wurden. In der Universitätsbibliothek fand ich dann einen Hinweis auf ein Deutsches Institut für (wofür?) Puppenspiel. Da ich nach einigen Jahren nach Deutschland zurückkehren wollte, bot ich diesem Institut im Herbst 1973 die Zusammenarbeit bei der Veröffentlichung eines Buches über das traditionelle kantonesische Stockpuppentheater an, und da mein Heimaturlaub für den Sommer des kommenden Jahres anstand, wurde in der Folge mein Besuch bei diesem Institut vereinbart. Auf dem fast leeren Bahnsteig im Hauptbahnhof Bochums traf ich an einem frühen Sommernachmittag auf einen älteren Herrn, Direktor Wortelmann, der mir zunächst beibrachte, das heißt hier nicht Bochum, sondern Boochum und zwei Sätze später, noch auf dem Bahnsteig erklärte, Sie sind mein Nachfolger. Es schloss sich ein ausgedehnter Spaziergang an. Rechts den Ring entlang die Geschichte der Stadt Bochums von einer Bergarbeiterstadt mit 41 Zechen, der grössten Zechendichte Europas, und Kruppstahlwerk zur grünen Universitätsstadt ohne Kohlenstaub. Dann rechts unter die Bahn hindurch am Museum vorbei zum Stadtpark mit der Vergangenheit Wortelmanns, Dramaturg bei Saladin Schmitt, Großverleger (Filmzeitschrift im modernsten Kupfertiefdruck, Radiozeitschrift 'Hör mit mir' - Springers 'Hör Zu' lässt grüssen -) bis Anfang der vierziger Jahre, Kulturoffizier in Flandern, kein Parteimitglied, nach dem Krieg Gründung des Deutschen Instituts für Puppenspiel. Um den Stadtpark herum mit einer Tasse Kaffee im Stadtparkrestaurant die Vergangenheit und Zukunft des Instituts, hauptsächlich Zukunft. Das Institut ist ein eingetragener Verein mit Vorstand, Kuratorium und Mitgliederversammlung, diese einmal im Jahr. Im Vorstand sind der Kulturdezernent der Stadt Bochum, ein Sparkassendirektor als Schatzmeister, ein Professor der Kunsterziehung aus dem Fränkischen, ein aktiver Puppenspieler, früher bei den Hohnsteinern (hatte ich die nicht in der Schule in Hamburg gesehen?) und er selbst als Institutsdirektor. Im Kuratorium sind unabhängige Personen mit glänzenden Namen wie beispielsweise Carlo Schmid, der eminente SPD-Politiker, der an der Erstellung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich beteiligt war oder Johannes Rau, Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen (späterer Ministerpräsident NW und nachfolgend Präsident der BRD). Als Institutsmitglieder gibt es nur juristische Personen wie die Stadt Bochum und andere Städte oder kulturelle Organisationen. Drei Zeitschriftenreihen werden herausgegeben. Ganz wichtig die Ausbildung, eine Schule für Puppenspieler soll eingerichtet werden, der Anfang sei gemacht, einzelne Kurse in unregelmäßigen Zeitabständen. Es gibt einen jährlichen Wettbewerb für deutschsprachiges Amateurpuppenspiel (hauptsächlich Schulgruppen), und es gibt ein jährliches Treffen der internationalen Profis, der Meister (hierfür gibt es einen Zuschuss vom Bundesinnenminister, sonst sind Stadt Bochum und der Kultusminister NW die Geldgeber, und es gibt Eigeneinnahmen). In Verbindung mit der Schule soll dann ein eigenes Theater eingerichtet werden, ein Archiv und eine Bibliothek sind vorhanden, auch eine Puppensammlung mit der grössten Papiertheatersammlung der Welt, und alle Aktivitäten (Schule, Theater, Museum, Bibliothek) sollen in einem Gebäude zusammengefasst werden, Vorgespräche seien mit der Stadt erfolgversprechend geführt worden. Zum Ende des Spazierganges zur Büroschlusszeit betraten wir eine größere Villa am Stadtparkrand, erster Stock, ein kleiner Saal, an den Wänden Schränke voller Bücher und Archivmappen, drei Schreibtische nebeneinandergestellt, mit drei Damen, die Eingangstür gut im Blick, ein Arbeitszimmer für eine ältere Dame, die dort gelegentlich archivarisch tätig ist, an den Wänden Regale hoch übereinander, auf denen Papiertheater standen, im Keller eine Holzwerkstatt mit mehreren Drehbänken und einigen kleineren Räumen, im ersten Stock dann ebenfalls das Direktorenzimmer mit einem wuchtigen Massivholzschreibtisch aus weitaus besseren Zeiten. Hier erklärte ich mein ausgeprägtes Interesse an der zu leistenden Aufbauarbeit und teilte mit, dass ich aus familiären Gründen erst ab Herbst 1976 zur Verfügung stünde. Wortelmann war nach kurzem Interventionsversuch einverstanden, warnte mich vor einigen Personen und nahm mir das Versprechen ab, besonders auf die Ausbildung und auf die künstlerische Qualität zu achten. Den Namen Figurentheater statt Puppenspiel habe er gewählt, um dieser Kunstform ein ernstzunehmendes Ansehen zu geben, und ich wäre ihm als Nachfolger wichtig, da ich einen akademischen Titel vorzuzeigen hätte. Abendessen bei seiner Frau, am Vormittag dann gemeinsame Zugfahrt nach Düsseldorf zum Vorstellungsgespräch im Kultusministerium beim zuständigen Ministerialrat Dr. Klinger, ein Termin beim Kulturdezernenten der Stadt Bochum war nicht zustandekommen. Abschied von Fritz Wortelmann, ich sollte ihn nicht wiedersehen. Nach meiner Rückkehr nach Hong Kong besuchte ich 1974 und 1975 die Länder Taiwan, Japan, Südkorea, Indonesien und Burma, wo ich Dank der Vorbereitungen eines ausgesprochen effektiven Netzwerkes (meine DAAD-Kollegen vor Ort) traditionelle Puppentheateraufführungen - in fast allen Fällen extra für mich arrangiert - sah, fotografierte und filmte. In Taiwan das alte chinesische Handpuppenspiel und Schattentheater, das von der Festlandprovinz Fukien seit hunderten Jahren herübergekommen war und das es in Hong Kong nicht gab, in Japan das seltene und sehr alte Stockpuppenspiel auf der Insel Sado und das noch lebendige Bunraku als Staatstheater, in Südkorea das fast verschüttete Stockpuppentheater Koktu Kaksi, in Indonesien die noch lebendigen Traditionen des Wayang Kulit als Schattentheater und des Wayang Klitik und des Wayang Golek als Stockfigurentheater, in Burma dann schließlich die nur gelegentlich zu sehenden Marionetten, mit ihrer dennoch zentralen Stellung in der burmesischen Kultur. Da waren immer - mit Ausnahme in Indonesien - alte Profis am Werk, mit einer atemberaubenden Brillianz und einer Ehrfurcht vor magischen Kräften ihrer Figuren. In diesen Jahren sah ich in Hong Kong auch den Marionettenspieler Roser aus Stuttgart, den das Goethe-Institut als Beispiel deutscher Kultur um die Welt schickte, mit seinen Kunstmarionetten ein technisch ausgereifter Firlefanz, in Asien kultureller Unsinn. Wortelmann wollte mich im Februar 1976 unbedingt in Bochum sehen, um mich seinen Vorstandskollegen vorzustellen und um einen Vorstandsbeschluss für meine Anstellung herbeizuführen, die Gelder seien zugesagt worden, es sei ein Gegenkandidat aufgetaucht, der Sohn seiner Chefsekretärin. Meine Studenten in Hong Kong konnte ich nicht im Stich lassen, es ging um die Vorbereitungen für die Examen und außerdem war ich von Wortelmanns diplomatischen Fähigkeiten überzeugt, von seiner Krankheit wusste ich nichts. Anfang April erhielt ich ein Telegramm von seiner Tochter, ihr Vater sei verstorben, ich möge zur Beerdigung kommen. Alle Honoratioren der Halbmillionenstadt waren versammelt, großer Bahnhof. Von den Vorstandsmitgliedern traf ich Professor und Puppenspieler, die mir erklärten, sie seien von Wortelmann auf mich als seinen Nachfolger eingeschworen worden und werden im Vorstand für mich stimmen, ein Termin beim Kulturdezernenten der Stadt war nicht zustande gekommen. Im Juni dann Vorstandssitzung, auch mein Gegenkandidat war angereist. Das Gespräch beim Kulturdezernenten am Vortag war an Absurdität kaum zu übertreffen, ich war schließlich aufgestanden, ich sei nicht aus Hong Kong angereist, um Teilnehmer an kleinen Spielchen zu sein, er entschuldigte sich, er hätte meine Belastbarkeit testen wollen, ich war wohl für seine Vorstellungen zu sehr belastbar, asiatisches Training. Ich eilte zurück zu meinen Studenten, die sich mitten in den Abschlussprüfungen befanden. Arbeitsbeginn Ende Juli. Wortelmann hatte noch im Januar für die Anstellung eines Studenten als Assistenten für mich gesorgt. Die Stadt wurde, nachdem sie sich in der Nazizeit hervorgetan hatte, seit Kriegsende mit absoluter Mehrheit von SPD Bergmännern und Gewerkschaftern regiert. Ein gewisser Stolz auf das Stadttheater und auf das Bergbaumuseum (zweitgrößtes Museum Deutschlands) einigte alle Parteien, und dann kam lange nichts, was andernfalls die Fantasie der Parteien offensichtlich überfordert hätte. Ein umgestürzter Blumenkübel vor dem Stadttheater war dem Chefredakteur der großen Lokalzeitung eine Reportage mit Bild wert, während mein Antrittsbesuch bei ihm unerwähnt blieb, zum Glück gab es eine zweite, wenn auch kleinere Tageszeitung. Noch im August verlangte die Stadt in Gestalt des Kulturdezernenten die Schaffung einer 'Sammlung Wortelmann' aus den Beständen des Instituts im Werte von 80.000 DM, schätzen müsste ich selbst. Sie sollte dann in den Institutsräumen ausgestellt und in das Eigentum der Stadt Bochum übergeführt werden, ohne Vorstandsbeschluss. Da diese Operation einem guten Zweck diente, der Witwe Wortelmanns sollte eine städtische Rente ausgezahlt werden und da ich unserem Schatzmeister erklären konnte, dass die von mir ausgewählten Puppen nur zweite Wahl seien und von den Büchern und Zeitschriften grundsätzlich nur Duplikate aus dem Institutsbestand herausgenommen wurden und das Archiv unberührt blieb, zog dieser mit. Immerhin erhielt ich so einen Einblick in die Schätze des Instituts - Wortelmann war seit Mitte der zwanziger Jahre ein guter Sammler - und in die Bereitschaft der Stadt, möglichst ungehindert in einem selbständigen Verein Einfluss zu nehmen. Nach dem Abbau der 'Sammlung Wortelmann', sie war in der Presse gewürdigt und der Öffentlichkeit wenige Wochen zugänglich gemacht worden, musste im selben Raum die 'Papiertheatersammlung Walter Röhler' neu aufgebaut werden. Dieser Sammler hatte hauptsächlich aus dem 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert ein damals sehr lebendiges Theatervergnügen innerhalb der Familien im Puppenstubenformat dokumentiert, welches mir als Theaterwissenschaftler bisher unbekannt war. In jener Zeit ohne Radio wurde in den Familien nicht nur musiziert, es wurde auch im Miniformat das Theater der großen Bühnen nachgespielt. Verlage gaben stark gekürzte Texte und auf Bogen gedruckte Kulissen, Bühnenaufbauten und Theaterfiguren heraus, farbig - und dann nicht selten von Kindern fabrikmäßig handkoloriert - oder schwarz/weiß, die man ausschneiden und auf Pappe aufkleben und aufbauen musste. Theatergeschichtlich wären diese Zeugnisse hochinteressant, da sie auch aktuelle Aufführungen direkt abbildeten zu einer Zeit, in welcher es noch keine fotografischen Dokumentationen gab. Röhler nun hatte seine Sammlung - weltweit die größte ihrer Art - seiner Vaterstadt mit der Auflage einer ständigen Ausstellung vermacht; Darmstadt jedoch war hierzu nicht in der Lage, weshalb Wortelmann sie ans Insititut nach Bochum ziehen konnte. Ständige Ausstellung und allmähliche Katalogisierung waren die Auflagen, zu welchem Zwecke einmal jährlich der darmstädter Kulturdezernent dem Institut seine Aufwartung bestellte. Sie stand unmittelbar bevor, es war Eile angesagt. Noch bevor ich im Sommer 1976 Hong Kong verließ, hatte ich mit einem traditionellen chinesischen Handpuppenspieler für den Herbst des Jahres einige Aufführungen in Deutschland vereinbart. Er war vor den Zerstörungen der Kulturrevolution aus der Provinz Fukien im Vorjahr nach Hong Kong geflohen, hatte seine Fertigkeiten von Kind an in der Familie gelernt und versuchte nun mit zwei Mitspielern, die Musik kam vom Band, etwas Geld zu verdienen, was in Hong Kong kaum möglich war, zumal diese Art des Puppentheaters bei den Kantonesen unbekannt und daher uninteressant war. Finanziell war das für mich ein Risikospiel ohne Netz, den Ausgaben an Flugkosten, Unterkunft, Spesen, Honoraren, Transport und Werbung standen Erlöse durch Verkauf von Eintrittskarten in Bochum und durch Abschluss von Gastspielverträgen in anderen Städten Deutschlands gegenüber; es wurde glücklicherweise ein Nullspiel, wobei das Institut die Arbeitskraft seiner Mitarbeiter einsetzen konnte, denn Gelder waren im laufenden Haushalt logischerweise nicht vorgesehen. Die Risikobereitschaft einiger Kulturamtsleiter der Gastspielstädte wurde belohnt, die lokale Presse hatte eine Sensation zu vermelden, und die Zuschauer kamen aus dem Staunen nicht heraus. Die chinesischen Handpuppen, sie sind dem menschlichen Körper proportional nachgebildet, standen auf der Spielleiste, verdrehten die Augen, die Schrittfolgen der chinesischen Oper, temporeiche Kampfszenen, artistische Höhepunkte passgenau zur stark rhythmisierten Musik, eine Handpuppe mit Pfeil und Bogen, der Pfeil fliegt und trifft auf der anderen Seite der Spielleiste ins Schwarze der Scheibe, oder eine Handpuppe fliegt im Kampf in die Luft, befreit von der Hand des Spielers, um im nächsten Moment wieder auf der Spielleiste zu stehen um weiterzukämpfen. Es gab zum erstenmal in Europa seit etwa fünfzig Jahren chinesische darstellende Kunst zu besichtigen, eine absolute Sensation. Zu meiner Überraschung meldeten sich die im Verband organisierten Puppenspieler der Bundesrepublik Deutschland zu Wort, voran der in der Kulturverwaltung der Nationalsozialisten geschulte Fritz Leese und das ewige BDM-Mädchen Gisela Lohmann 'ach das war doch eine schöne Zeit' aus Nordrhein-Westfalen, ich möge doch lieber die deutschen Puppenspieler fördern. (BDM ist Bund Deutscher Mädchen der Nationalsozialisten). Da kam offensichtlich eine gar nicht so ferne katastrophale Vergangenheit auf mich zu, mit der ich zunächst nichts anzufangen wusste. Und so gings los ... Ich hatte mehrere Funktionen übernommen, die wenig oder gar nichts miteinander zu tun hatten. Ich war von einem Tag auf den anderen Verleger geworden und Chefredakteur, Schuldirektor, Festivalleiter, Bibliothekar, Archivar, Impressario, Kurator, Museumsdirektor und Verwaltungschef. Diese Tätigkeiten waren mir vom Namen her nicht einmal alle bekannt, erlernt hatte ich keine. Wo hätte ich sie erlernen können? Wie wird man Verleger? Schuldirektor? Impressario? Museumschef? Festivalleiter? Man hätte von Könnern lernen und sich hocharbeiten müssen. Ich war da oben und hatte keine Ahnung. Etwas vom gesunden Menschenverstand, von Kreativität, Risiko-bereitschaft, Durchsetzungsvermögen billigte ich mir zu. Vom Figurentheater und seinen Möglichkeiten hatte ich eine intime Kenntnis und deutliche Zielvorstellungen; das war die Klammer. Aber könnte das reichen? Ein Netzwerk stand mir nicht zur Verfügung, ich kannte niemanden, nicht eine einzige Person, mit der ich vertrauensvoll hätte Pläne schmieden können, im Gegenteil, die bestehenden Netzwerke, seit Jahrzehnten erprobt, standen gegen meine Arbeit und konsequenterweise dann gegen mich. Auch davon hatte ich keine Ahnung. Niemand kannte mich, ich war fünfunddreißig, sah aus wie zweiundzwanzig, mit einem Habitus, der in Asien und vom chinesischen Pragmatismus geschult war. Paradebeispiel: Die Toilettenpapierrolle beim Abendessen. Sie stand, wie die Zahnstocher, für jeden erreichbar auf dem Tisch. Die leckersten Speisen, mindestens neun verschiedene, kamen auf denselben, nichts blieb trocken, die Hände aßen schon mal mit, und die Lippen glänzten sowieso. Da wurde das sauberste Papier abendländischer Kulturnationen, bestimmt für die andere Seite des Verdauungstraktes, von jedem tüchtig abgerollt. Ich hatte Glück. Wenige Wochen nach Beginn meiner Arbeit kam ein freundlicher Mann in mein Büro, meine Körpergröße, 165 cm, aber wohl doppeltes Gewicht, rund, Bauch, energiegeladen und redete und redete. Meinen drei Mitarbeiterinnen war er offensichtlich gut bekannt, ich hatte den Eindruck, hier begann Wortelmanns Testamentseröffnung, unter vier Augen, Intensivtraining, stundenlang. Jan Dvorak war in der Tschechoslowakei einer der ganz wichtigen Größen des nationalen Figurentheaters, Direktor des städtischen Figurentheaters in Hradec Kralowe (Königgrätz), Professor an der Akademie für Figurentheater in Prag. Meine Wissbegierde kannte keine Grenzen, das heißt, doch, mein Gesprächspartner war immerhin hoher Kulturfunktionär eines sozialistischen, um nicht zu sagen kommunistischen Landes. Und es gab 1976 noch den echten Kalten Krieg. 1968 hatte ich den hautnah miterlebt als es nicht wenige Wiener gab, die nach dem Einmarsch der Russen in Prag eine Besetzung Österreichs oder zumindest Wiens für sehr wahrscheinlich hielten. Zudem hatte ich während meiner fünfjährigen Studentenzeit in Wien bis 1969 die CSSR, Ungarn und Jugoslawien kurz bereist, sodass mir ein sozialistisches Land durchaus nicht als Märchenland erscheinen konnte. Abgesehen davon, dass die Radioreportagen vom Ungarnaufstand 1956, Fersehen gab es noch nicht, einen tiefen Eindruck auf mich hinterlassen hatten, war ich in Wien Isa Strasser mehrfach begegnet. Sie war Funktionärin bei der Profintern in Moskau von 1923 bis 1928 und hatte in ihrem Tatsachenroman 'Land ohne Schlaf' ausführlich über die beunruhigende Vorgeschichte der Stalinkatastrophe berichtet, ihre Schilderungen brachten mich dem Sozialismus-Kommunismus ganz gewiss nicht näher. Bei ihrer Schwiegertochter Maria, sie lebte mit Österreichs Justizminister Christian Boda zusammen, war ich einziger Untermieter, im Gartenhaus, mit Dusche, WC, Kochecke, kostenlos. Irgendwie mochten Sie mich, ich sah aus wie ein Revoluzzer der Frühzeit, mit Schiebermütze und Bart, Lehnin verdammt ähnlich, was ich nicht beabsichtigt hatte. Mein einziger Kontakt zu einer kommunistischen Partei bestand darin, dass ich mir von der KP Österreichs für mein Strassentheaterprojekt 1968 mehrfach ein Megaphon auslieh. Aktionskünstler Mühl machte meinen Strassen-theateraktionen ein jähes Ende, als er in der Wiener Universität in einem Hörsaal auf den Katheder kackte. Studenten waren von einem Tag auf den anderen Schimpf und Spott ausgesetzt, ich war echt sauer auf Mühl. Da waren mir die Aktionen von Nitsch mit seinen Eimern voller Tierblut vom Schlachthof, mit dem Schafskadaver und dem dazugehörigen Gekröse, das mir um die Ohren geworfen wurde, weitaus angenehmer. Noch heute helfe ich Bauern im Winter beim Schweineschlachten gern, rühre das warme Blut, damit es nicht gerinnt, rasiere die Borsten von der Haut, zerstückele Fleisch, Fett und Schwarten, roh und gekocht, stundenlang, presse die Wurstmasse in die Därme und binde sie ab und rühre eine andere Wurstmasse im 200 l Bottich brodelnd drei Stunden lang. Zwei Tage lang bin ich Vegetarier Schweinefresser und sehe zu, dass ich die nächsten Tage wieder von der Toilette komme. Kurz gesagt: ich war immun gegen den Kommunismus. Das hiess jedoch nicht, dass ich ihm ideologisch verknifffen feindlich gegenüberstand. Menschenverachtung ist mir zutiefst zuwider, ob von links oder von rechts, Pragmatismus war meine Sache, nicht in ungezügelter Spielweise, wie ich ihn bei den Chinesen auch kennengelernt hatte, geprägt von einem Gerechtigkeitsempfinden, dessen Wurzeln, ob mir das nun gefiel oder nicht, abendländisch-christlich waren. Es war durchaus mein Anliegen, mit meinen sehr bescheidenen Mitteln für eine Verständigung zwischen den ideologischen Blöcken beizutragen. Mit den vernagelten Funktionären der DDR war das dann am spannendsten. Jan Dvoraks Leitspruch 'gute Arbeit, gutes Geld' überzeugte mich sofort, und zum Glück konnte ich ihn als Dozenten gewinnen. Nicht für die in der Gründung stehende Schule, das wäre für ihn finanziell uninteressant gewesen, er hätte je Woche kaum mehr als zehn bis fünfzehn Unterrichtsstunden geben können, sondern für einzelne Projekte über mehrere Wochen bei 40 Stunden je Woche. Mit der Aufsichtsbehörde hatte ich ein Honorar von 25.- DM je Unterrichtsstunde von 45 Minuten vereinbart, woran ich mich fast ausnahmslos auch hielt, das Honorar war für jeden Dozenten gleich. Zuzüglich zahlte ich Reisekosten, Unterbringung und Verpflegungsspesen, oder auch nicht. Weiß der Teufel, woher ich das Geld nahm, denn einen Topf, einen Haushaltstitel konnte es 1976 gar nicht gegeben haben, ich muss erfinderisch gewesen sein. Wie sich dann einige Monate später zeigte, wurden die Dvorak-Projekte mit ihrer finanziellen Ausstattung zum Grundstein für die Organisationsstruktur des Figurentheater-Kollegs.
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